Drücken Sie die Daumen - Prof. Dr. Holger Zaunstöck im Interview

Die Franckeschen Stiftungen sind für das UNESCO-Welterbe nominiert. In die Welterbeliste nimmt die UNESCO diejenigen Schätze der Welt auf, die einen „außergewöhnlichen universellen Wert“ besitzen. Der UNESCO-Beauftrage der Stiftungen Prof. Dr. Holger Zaunstöck im Interview.

Was macht die Franckeschen Stiftungen welterbewürdig?

Wir sind der Überzeugung, dass die Franckeschen Stiftungen einem solchen Anspruch gerecht werden. Denn sie stehen sozusagen stellvertretend für die menschheitsgeschichtliche Aufgabe, sich um die Waisen, um die Armen, um die Benachteiligten zu kümmern, aber auch grundsätzlich für die Bedeutung der Bildung innerhalb von Gesellschaften überhaupt. Und diese grundlegenden menschheitsgeschichtlichen Aufgaben der Fürsorge und der Bildung sind hier in Halle zum ersten Mal in der Vormoderne systematisch zusammengeführt und zu einem neuen Gesamtkonzept entwickelt worden, welches Modellcharakter hatte. Und dafür ist mit den Franckeschen Stiftungen eine ganz neue, einzigartige Architektur entstanden, die dann ebenfalls modellhafte Züge besaß. Kurzum, wenn man sich die Geschichte von Sozialfürsorge und Bildungsarchitektur ansieht, bilden die Stiftungen einen ganz entscheidenden Wendepunkt im internationalen Vergleich.  

Was genau ist für das UNESCO-Welterbe nominiert?

Jede Stätte, die weltweit aufgenommen werden will, muss zwei Dinge definieren. Sie muss das eigentliche Kernensemble definieren, das in die Welterbe-Liste eingeschrieben werden soll. In den Franckeschen Stiftungen umfasst das nominierte Welterbe die um den zentralen Lindenhof liegenden Bauten, welche zwischen 1698 und 1748 unter August Hermann Francke und seinen Nachfolgern errichtet wurden – vom Historischen Waisenhaus im Westen bis zum Francke-Denkmal im Osten. Darüber hinaus gibt es eine sogenannte Pufferzone, die das eingeschriebene architektonische Gut umschließt und schützen soll.  

Im Mittelpunkt steht das Historische Waisenhaus. Was macht es so einzigartig?

Dieser Bau ist etwas ganz Besonderes. Denn er vereinigt Elemente von Rathäusern, Schlössern, von Stadtpalais sowie auch von Klöstern und Bildungsanstalten aus dem 16. und 17. Jh. zu einem ganz neuen, bis dahin nicht bekannten Bautyp. Dieser Bautyp fügte dem europäischen Barock eine gänzlich neue Facette hinzu, die ein Ausdruck des nüchternen, aber erhabenen Stils des pietistischen Protestantismus war. Das kann man besonders an der großartig reduzierten, sozusagen „entschmückten“ Fassade sehen. Das Waisenhausdach überrascht als eines der frühesten Mansarddächer in Deutschland überhaupt, was gleichsam einen architektonischen Trend vorwegnahm. Und erst mit dem halleschen Waisenhaus kann man von einem eigenständigen Bautyp Waisenhaus sprechen. Bislang wurde noch keine Stätte in ihrer Hauptfunktion als Waisenhaus in die Welterbeliste aufgenommen. 



Natürlich der wohl größte Fachwerkwohnhausbau Europas aus der Zeit um 1700, das sogenannte „Lange Haus“ im oberen Lindenhof. Mit seinen 115 Metern Länge und bis zu sechs Stockwerken stellt es das Maximum der Ingenieurstechnologie seiner Zeit dar. Mehr im Sinne von höher, länger, breiter konnte damals im Fachwerk nicht gebaut werden. Das Lange Haus ist aber  noch aus einem anderen Grund ein ganz besonderer Bau. Denn die durchgehende Fassade vermittelt die Anmutung eines einzelnen Gebäudes, besteht aber in Wahrheit aus drei Einzelgebäuden, die direkt aneinandergefügt worden sind. Die Fassade ist dabei so minimiert und vereinfacht, dass hier von der ersten Rasterfassade im Fachwerkhausbau gesprochen werden kann, die erst im 19. und frühen 20. Jh. fl ächendeckend industriell angewandt worden ist.  

Welche Kriterien müssen noch erfüllt sein?

Die Unversehrtheit und die historische Echtheit. Dafür ist ganz zentral, dass das nominierte Welterbe aus der ersten Hälfte des 18. Jh. vollständig erhalten ist. Die Franckeschen Stiftungen wurden über 300 Jahre lang analog der ursprünglichen Funktionen genutzt und konnten nach dem weltpolitischen Umbruch von 1989/90 umfassend gerettet und restauriert werden. Die kulturgeschichtlich einzigartigen Gebäude samt Kunst- und Naturalienkammer und Bibliothek sind so heute am originalen, historisch authentischen Ort erlebbar. Das Historische Waisenhaus ist Museum und vielfältiger Veranstaltungsort. 

Wie muss man sich den Antragsprozess vorstellen?

Nach zweijähriger Arbeitszeit wurde im Sommer 2014 der Antrag auf Einschreibung in die Welterbeliste fertiggestellt. Die formale Vorprüfung durch das Welterbezentrum in Paris gab grünes Licht, und so wurde der Antrag zur offi ziellen Einreichung Ende des Jahres 2014 der Landesregierung in Magdeburg übergeben, von wo aus er seinen endgültigen Weg nach Paris genommen hat und nun einer eingehenden Prüfung unterzogen wird. Im Juni 2016 fällt die Entscheidung. Bis dahin wirbt ein umfangreiches Programm mit stadtweiten Aktionen für den Titel. Drücken Sie die Daumen!