Die Cansteinsche Bibelanstalt in Halle

Im Jahre 1710 entstand im Halleschen Waisenhaus die erste Bibelanstalt der Welt. Ihr Urheber war der Freiherr Carl Hildebrand von Canstein (1667-1719), einer der bedeutendsten Anhänger August Hermann Franckes (1663-1727). Bis zu Cansteins Tod wurden bereits ca. 100.000 Neue Testamente in 20 Auflagen und je 40.000 Haus- und Handbibeln in je acht Auflagen durch die neue Bibelanstalt verbreitet. Im ganzen 18. Jahrhundert erschienen hier fast 2 Millionen Vollbibeln in 380 Auflagen und über 1 Million Neue Testamente. Bald waren zu den deutschen Bibeln auch Ausgaben in anderen Sprachen hinzugekommen. Auf Grund der hohen Wertschätzung der Bibel durch den Halleschen Pietismus, des guten Namens des Waisenhauses, des sensationell niedrigen Preises und vor allem der Textqualität war das Wirken der Bibelanstalt dermaßen erfolgreich, dass die Bibel nun zu einem wirklichen „Volksbuch“ wurde.

Der Pietismus war schon im Ursprung eine Bibelbewegung. Als solche trug er in außerordentlichem Maße zur Verbreitung und Aneignung der Bibel in der Gemeinde bei. Francke war der Ansicht, dass eine verpflichtende Autorität nur der Heiligen Schrift zukomme. Daher forderte er häufige Bibellektüre und den Erwerb einer umfassenden Bibelkenntnis. Eine Voraussetzung dafür sah er in einer Massenverbreitung der deutschen Bibel zu Niedrigstpreisen. Schon im 17. Jahrhundert gab es durchaus keinen Mangel an preiswerten Handbibeln. Dass die Bibel noch nicht, wie von den Pietisten erhofft, ein wirklich in alle Schichten dringendes Volksbuch geworden war, lag in hohem Maße an fehlender Nachfrage und Desinteresse. So musste das vorrangige Ziel der Pietisten sein, mit Hilfe von Belehrung und Anleitung zum Bibellesen aus dem orthodoxen Katechismuschristentum das angestrebte Bibelchristentum zu formen.



Dem Ziel der Verbreitung von guten Bibeln widmete sich auch Canstein. Er griff die bereits in Holland zur praktischen Anwendung gebrachte Idee auf, vom „stehenden Satz“ zu drucken. So war die Produktion immer neuer Bibelausgaben zu etwa je 5.000 Exemplaren mit hoher Textqualität möglich, bis die Lettern abgenutzt waren und umgeschmolzen werden mussten. Allerdings waren hohe Anfangsinvestitionen für den Erwerb der benötigten großen Menge an Typenmaterial erforderlich. Das hierfür notwendige Kapital beschaffte Canstein, der Spenden sammelte, den größten Teil der Kosten aber selbst trug.

Da der Bibeltext seit der Lutherzeit starke Abweichungen aufwies, waren Canstein und Francke bestrebt, wieder einen brauchbaren Luthertext herzustellen. Als Grundlage diente die in Stade erschienene recht zuverlässige Oktavbibel in der Ausgabe von 1703, die Canstein mit Bibeln aus der Lutherzeit verglich. Auf Grund der erreichten hohen Textqualität und der großen Korrektheit wurde die Canstein-Bibel auch zur Vorlage für die erste deutschsprachige Bibeledition durch Christopher Saur 1743 in Amerika. Neben den deutschsprachigen Bibelausgaben der Cansteinschen Bibelanstalt bemühte sich das Hallesche Waisenhaus auch um wissenschaftliche Bibeleditionsprojekte und die Herausgabe fremdsprachiger Bibeldrucke.



So wurde beispielsweise im von Francke 1702 gegründeten „Collegium orientale theologicum“ die erste kritische Ausgabe des hebräischen Alten Testaments erarbeitet, die 1720 erschien, und 1722 wurde eine tschechische Bibel im Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses publiziert. 1938 sollte die Cansteinsche Bibelanstalt vom NS-Staat aufgelöst werden, was durch die Verbindung mit der Preußischen Haupt-Bibelgesellschaft, der man die Verlagsrechte und die Bestände überließ, verhindert wurde. Mit Sitz in Witten (Ruhr) wurde 1951 die Produktion von Bibeln in moderner Form wieder aufgenommen.

Mehr als tausend Belegexemplare der Neuen Testamente und Bibeln aus der Bibelanstalt sind heute in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen vorhanden. Im 300. Jubiläumsjahr der Bibelanstalt zeigt eine Kabinettausstellung in der Historischen Bibliothek der Franckeschen Stiftungen nun eine Auswahl dieser Drucke und weitere Dokumente zum Bibeldruck im Halleschen Waisenhaus.

(Michael Hübner, Kulturfalter März 2010)