Ein Blick in die Arbeitswelt von 1917
Mit der Veränderung der Wirtschaft verändert sich die Arbeit und damit das alltägliche Leben. Die Franckeschen Stiftungen riefen 2009 das Themenjahr „Arbeitswelten“ aus. Eine gute Gelegenheit, mit den heutigen Erfahrungen auch einmal auf vergangene Arbeitswelten zurückzuschauen.
Ein Blick in das Adressbuch von Halle von 1917 verschafft einen kleinen Einblick in die Arbeitswelt jener Zeit, die schon maßgeblich durch die Industrie, aber noch durch zahlreiche Handwerksberufe und -betriebe geprägt ist. Das Jahr 1917 liegt in der Mitte der Amtszeit von Oberbürgermeister Richard Rive, der Halles Entwicklung zur Großstadt wesentlich mitgestaltete. Dass das ausgewählte Jahr ein Kriegsjahr war, schlägt sich im Verzeichnis „Handel- und Gewerbetreibende in Halle a.d.S.“ des Adressbuches nicht nieder. Lediglich ein Spezialgeschäft für Uniformen und eine Firma für Heeresausrüstungen wiesen möglicherweise auf Halle als Militärstandort hin. Viele der im Adressbuch aufgeführten Betriebe waren aber mit Sicherheit auf Kriegswirtschaft umgestellt.
Gar nicht so anders als heute teilte sich die Arbeitswelt in Industrie und Dienstleistung. Doch die Industrie setzte noch ganz auf die Energieerzeugung aus Dampf, das zeigen drei Dampfmaschinenfabriken und zahlreiche Zulieferer für Dampfmaschinen, Dampfhammerwerke, Dampfheizungsanlagen, Dampfziegeleien neben Dampfkesseleinmauerungen und -Reiniger. Elf Eisengießereien und fünf Eisenkonstruktionsanstalten und Drahtwebereien stellten das notwendige Industriearsenal her. Halle hatte Anfang Dezember 1917 laut einer Volkszählung 168842 Einwohner; die umliegenden Orte Ammendorf, Beesen, Böllberg, Büschdorf, Diemitz, Dölau, Kanena, Passendorf und Wörmlitz waren noch nicht eingemeindet.
Unter den Rauchfahnen der Betriebe spielte sich das Leben in der Stadt ab, noch beherrschten Pferdefuhrwerke, die vor allem den Transport besorgten, das Straßenbild: 41 Fuhrgeschäfte mit Pferden sind im Adressbuch zu finden, nebst einem Peitschenhersteller. Dagegen nur drei Firmen mit Automobil-Droschken und vier mit Taxametern für die Personenbeförderung.
Die Industrie übernahm Aufgaben des traditionellen Handwerks. Zum Beispiel Bäcker: 1917 gab es in Halle drei Brotfabriken und noch 258 Bäcker – 2009 laut der Gelben Seiten in Halle 43 Bäckereien! Ähnlich verhielt es sich bei den Fleischern und Schlächtern, die 1917 von acht Darmhandlungen für die Wurstherstellung beliefert wurden. Für die Aufbewahrung von frischem Fleisch und Wurst benötigt man einen Kühlschrank, nur wenige Haushalte verfügten damals über einen solchen Luxus. Eine Eisfabrik und eine Eishandlung belieferten sie. Das Eis wurde im Winter in der Saale geschlagen und an kühlen Orten aufbewahrt.
Am offensichtlichsten verändert hat sich die Berufswelt in dem Bereich, der größten Schwankungen ausgesetzt ist, in der Mode. Kleidung und Accessoires werden heute – mit wenigen exotischen Ausnahmen – fast ausschließlich industriell hergestellt. In Halle befand sich im Jahr 1917 dieser Bereich noch fest in Handwerkerhand. 347 Schneider schnitten und nähten die Anzüge für die Herren. Der Anzug war zu dieser Zeit noch völlig die zweite Haut des Mannes, auch Arbeiter trugen Anzüge, teils sogar bei der Arbeit. Eine Kopfbedeckung, aber auch ein Stock machten den Mann komplett. Dafür sorgten acht Hutfabriken, 14 Huthandlungen und vier Stockfabriken.
In den für Damenkleidung zuständigen Bereichen arbeiteten auch viele Frauen als Schneiderinnen oder Weißstickerinnen. Letztere verzierten die Leibwäsche und zeichneten sie mit Namen, damit die Wäsche in den Waschfabriken und Aufbügelinstituten nicht verloren ging. Auch zur Dame gehörte unbedingt ein Hut: 42 Putzmacherinnen und Putzgeschäfte gab es 1917 in Halle.
Wenn man sich „aufgeputzt“ hatte, wo ging es dann hin? In eine der 500 Gastwirtschaften, die von sechs Brauereien und doppelt so vielen Biergroßhandlungen beliefert wurden? Oder in die sechs Speiseanstalten oder lieber in eine der beiden vegetarischen Speiseanstalten? Soweit ein kleiner Einblick in das Adressbuch von Halle 1917. Die scheinbar trockene Auflistung der Firmen und ihre Anzeigen ermöglichen Assoziationen und lassen einen neuzeitlichen Mikrokosmos städtischen Lebens entstehen.
(Der Text ist ein Auszug aus der Publikation „Feldscher Kratzer Beutler. Vergangene Arbeitswelten“ von Simone Trieder in der Reihe ‚Mitteldeutsche kulturhistorische Hefte’, die im März 2009 im Hasenverlag Halle erschien.)
(Simone Trieder, Kulturfalter März 2009)