Architektur der Franckeschen Stiftungen um 1700

Das Architekturensemble der Franckeschen Stiftungen ist einzigartig in der europäischen Kulturlandschaft. Oft ist deshalb die Frage nach dem Architekten insbesondere des Hauptgebäudes gestellt worden. Dabei sind der Architekturtheoretiker Leonhard Christoph Sturm (1669–1719) und der kurfürstlich-brandenburgische Hofbaumeister und Baudirektor in den Städten und auf dem Land Martin Grünberg (1665–1705) genannt worden. Belege dafür sind allerdings ausgeblieben. Die Suche nach dem einen Architekten aber ist womöglich die falsche Frage. Denn sie geht von der Annahme aus, dass August Hermann Francke (1663–1727) einen externen Fachmann damit beauftragt hat, das Hauptgebäude des Stiftungsensembles und die Grundzüge der entstehenden Schulstadt zu entwerfen. Franckes zentrale Gestaltungs- und Entscheidungsposition beim Aufbau des pietistischen Bildungs- und Reformwerks, durch das sich in seinen Augen göttlicher Wille vollzog, ließen eine solch zentrale Gestaltungsposition für einen Externen nicht zu.



Francke war der Bauherr, der das nötige politische Umfeld schuf und für die finanziellen Ressourcen sorgte. Um den konkreten Bauvorgang hat er sich weniger gekümmert. Dieser wurde frühzeitig seinem Mitarbeiter Georg Heinrich Neubauer (1666–1725) anvertraut. Dieser reiste in die Niederlande, um dort die Waisenhäuser zu studieren. Über den Theologen Neubauer wissen wir wenig. Es existiert kein Bildnis. Zum Zeitpunkt seines Todes besaß er lediglich eine geringe Anzahl Bücher. Neben Neubauer hat Francke zusätzlich fachlichen Rat eingeholt. Rechnungsbelege der Stiftungskasse belegen, dass neben anderen z. B. der Ingenieur Gottfried von Gedeler bei der Entstehung des Haupthauses mit beteiligt gewesen ist (Oktober 1698, März 1700). Dies zeigt auch ein Bericht an den Kurfürsten Friedrich III. (1657–1713) über das Waisenhaus vom 8. November 1700. Darin heißt es, dass Neubauer „nach abgelegter Reise, den Bau mit Ew: Churfürstl: Durchl: Bau Meister“ von Gedeler „angelegt“ hat.

Gedeler war in Halle kein Unbekannter: Zuvor hatte er an der Universität Baukunst und Mathematik unterrichtet und war 1694 für die Errichtung der studentischen Ehrenpforte zur Inauguration der Universität sowie für Reparaturen des Kollegienhauses, der Waage auf dem Markt, verantwortlich. Im Januar 1695 hatte er beim Kurfürsten um die Stelle eines „Bauverständigen“ der Stadt nachgesucht. 1702 wurde er nach Bayreuth als „markgräflicher Oberbaumeister“ berufen. In dieser Funktion vollendete er 1703/04 das Erlanger Schloss. In der Gegenüberstellung des Waisenhauses und des Erlanger Schlosses – beider Frontfassaden waren durch einen Mittelrisaliten und ein Tympanon gegliedert – lässt sich deutlich zeigen, in wie weit der architektonische Zeitgeist um 1700 auf die jeweilige Funktionalität und Symbolhaftigkeit hin spezifiziert worden ist. Das Erlanger Schloss ist mit seiner Ornamentik als landesherrlicher Repräsentativbau erkennbar, das Waisenhaus ist in seiner physischen Präsenz einem Schloss vergleichbar, verzichtet aber nahezu auf jede verzierende Ausschmückung. Diese gerade auch symbolisch zu verstehende Betonung entspricht Franckes Maßgabe, dass die äußere Erscheinungsform für das pietistische Reformprojekt mit dessen inneren strengen Werten anzugleichen sei.



Diesem Grundsatz sah sich Neubauer verpflichtet. Er avancierte zur zentralen Person im Baugeschehen: Unter seiner Leitung nahm die Schulstadt geordnete Form an, wurde die pietistische Utopie gebaut. Neubauer ging ganz in seiner Aufgabe auf. So schrieb er 1714 an den Hofprediger Anton Wilhelm Böhme in London: „Es leuchten die Gebäude vielen Menschen so in die augen, daß sie den finger gottes darin erkennen, und preisen“. Die überwältigende Schulstadtarchitektur, die einen Anspruch auf Wahrnehmung und Gestaltung der Gesellschaftswirklichkeit um 1700 verkörperte, wurde als das eigentliche Ereignis in den Vordergrund gestellt. Das Waisenhaus funktionierte als Waisenhaus und war zugleich Ausdruck einer weit reichenden Reformidee – Funktion und Symbol verschmolzen in der Architektur. Dass dies im Zeichen von Bildung, Erziehung, Fürsorge und kontrollierender Disziplinierung erfolgte, macht ihre Einzigartigkeit aus.

(Holger Zaunstück, Kulturfalter Juni 2010)