Mit Gott für Kaiser und Vaterland - Die Franckeschen Stiftungen im Ersten Weltkrieg

Als die Franckeschen Stiftungen im Jahr 1913 den 250. Geburtstag August Hermann Franckes  (1663-1726) feierlich begingen, konnte ihr Direktor Wilhelm Fries (1845-1928) auf eine erfolgreiche Bilanz der Einrichtung in den zurückliegenden friedlichen Jahrzehnten verweisen. Die finanzielle Situation schien auf lange Zeit gesichert zu sein, neue Ausbildungsbereiche wie die Lehrerbildung hatten sich etabliert, die Schülerzahl war auf 3056 gestiegen. Zwei große Schulneubauten, die Höhere Mädchenschule und die Lateinische Hauptschule, waren 1896 und 1906 entstanden, der Bau einer dritten Schule,  der künftigen Oberrealschule, hatte gerade begonnen. Obwohl man sich in den Festschriften und -reden auf die christlichen Traditionen der Schul- und Erziehungsanstalt bezog, waren von den einst völkerverbindenden Reformbemühungen ihres Gründers nur Erinnerungen geblieben.



Zunehmend hatten sich die Stiftungen zu einer Einrichtung des preußischen Staats entwickelt, die sich in konservativer Haltung zu Kaiser und Vaterland bekannte und jeder pädagogischen Neuerung abhold war. Das Leben in den Schülerheimen war einerseits von Gemeinschaftssinn, andererseits von einem streng hierarchischen, an militärischen Werten orientierten Reglement bestimmt. Davon waren auch die zahlreichen neu gegründeten Vereine durchdrungen, wie die Schülerturnvereine „Friesen“ und „Jahn“, der Schülergesangverein “Loreley“ und die Schülermusikkapelle. So verwundert es nicht, dass Lehrer und Schüler den Ausbruch des Kriegs als Befreiung von den Bedrohungen und Anfeindungen durch andere Staaten begrüßten. Bereitwillig meldeten sich Schüler – oft mit einem Notabitur versehen – und Lehrer zum Heeresdienst an die Front. Die Berichte und Chroniken der Schulen über die Jahre 1914 bis 1918 sind geprägt von den Kriegsereignissen. Breiten Raum nimmt das Gedenken an die Gefallenen ein. So starben bereits im ersten Kriegsjahr 46 Angehörige der Latina. Darunter befand sich auch der Lehrersohn Arnold Weingärtner, der als Kriegsfreiwilliger eines Infanterieregiments im Alter von 17 Jahren im Dezember 1914 durch einen Kopfschuss bei Lodz fiel.

Insgesamt vermeldet das nach dem Krieg entstandene Gefallenenregister unter dem pathetischen Motto Wir sind gefallen, daß Deutschland lebe den Tod von 16 Lehrern, 59 Schülern und 217 ehemaligen Angehörigen allein dieser Schule. Jüngere Schüler, vor allem aber die Schülerinnen, wurden dem damaligen Rollenverständnis gemäß zu Arbeiten in der Heimat herangezogen und sollten den Soldaten im Feld vor allem moralisch beistehen. Die Franckeschen Stiftungen unterstützten diese Politik aktiv. Sofort nach Kriegsbeginn stellten sie die gerade fertiggestellte Oberrealschule als Reserve-Lazarett zur Verfügung. Schülerinnen führten dort Theaterstücke und Konzerte für die Verwundeten auf. Mit sogenannten Liebesgaben, selbst hergestellten Geschenken, hielten sie die Verbindung zu den Soldaten in den Kampfgebieten aufrecht. Besonders ins Auge fallen dabei die Postkarten, die von den Schülerinnen des Oberlyzeums mit nationaler und patriotischer Symbolik gezeichnet wurden.  Auch für Kriegswitwen und -waisen setzten sich die Mädchen mit Beihilfen ein. Durch Spendensammlungen und Auktionen, organisiert vom Deutschen Roten Kreuz und dem Vaterländischen Frauenverein, unterstützten sie aktiv die Kriegsführung Deutschlands.



Wie dachten die Betroffenen selbst, abseits der offiziellen Verlautbarungen, über den Krieg? Zu den wenigen dazu erhaltenen Dokumenten im Archiv der Franckeschen Stiftungen zählt der Nachlass von Erika Gebhardt (1900-1915), die seit 1913 Schülerin am Lyzeum war. In den zahlreichen Briefen, die sie an ihre Eltern nach Thüringen schickte, findet sich keine Spur einer kritischen Auseinandersetzung mit den Geschehnissen. Voller kindlicher Naivität und Begeisterung berichtet sie über ihre Tätigkeiten an der „Heimatfront“. Allenfalls klingt Mitgefühl für die Opfer des Kriegs an. Am 22. August 1914 schrieb sie: „Es ist doch großartig, wieviel mächtige Siege in den letzten Tagen erfochten sind. Ich möchte immer laut jubeln, wenn eine neue Siegesmeldung kommt. Doch muß man auch immer an die armen Verwundeten und Leidtragenden denken.“ Den erhofften baldigen Sieg der deutschen Truppen und einen Friedensschluss erlebte Erika Gebhardt nicht. Sie starb kurz vor ihrem 15. Geburtstag am 3. Dezember 1915 im Krankenhaus der Stiftungen an Diphtherie. 

Das Ende der Kampfhandlungen und der Zusammenbruch des Kaiserreichs bedeuteten auch eine Zäsur für die Franckeschen Stiftungen. Der Verlust des Schutzes durch das Herrscherhaus und die schwere Finanzkrise durch die Inflation zwangen die Einrichtung zu einer Neuorientierung. Von den Schwierigkeiten, sich von der Vergangenheit eines autoritären Systems zu lösen, zeugt u.a. die Verehrung von ehemaligen Stiftungsschülern, wie dem Generalfeldmarschall August von Mackensen (1859-1945), als Kriegshelden.

(Jürgen Gröschl, Kulturfalter März 2014)