Vor 100 Jahren: Halle im Nolde-Fieber

Im Frühjahr 1913 gelang dem Direktor des städtischen Museums von Halle, dessen Gemäldesammlung im ehemaligen Eich- und Waageamt am Großen Berlin untergebracht war, ein mutiger Coup: Aus einer Ausstellung Emil Noldes im halleschen Kunstverein, die er als dessen Schriftführer selbst eingefädelt hatte, konnte er zwei Gemälde, einen Blumengarten und das umstrittene religiöse Bild „Abendmahl“ sowie mehrere Zeichnungen für seine Sammlung erwerben. Dies war ein Ankauf, der das Museum zum Wegbereiter der Moderne profilierte und den damals noch verkannten, streitbaren Künstler Nolde museumsfähig machte.

Glückliche personelle Konstellationen ermöglichten diesen Schritt: Der junge, aufgeschlossene, agile Direktor war Max Sauerlandt, der dem Museum seit fünf Jahren vorstand, das Haus neu orientieren und an die Kunst der Gegenwart heranführen wollte. An seiner Seite wirkte Kurt Freyer, der zuvor an Deutschlands erstem Sammlermuseum, dem innovativen Museum Folkwang von Karl Ernst Osthaus in Hagen gearbeitet hatte. Mit Richard Robert Rive regierte in Halle ein weitblickender Oberbürgermeister, der die Aktivitäten seines Museumsdirektors rückhaltlos unterstützte. Auch wenn ihm selbst die zeitgenössische Kunst nicht wirklich zugänglich war, erkannte er ihre Bedeutung als Investition in die Zukunft. Der kunstsinnige Fabrikant Felix Weise, Inhaber einer florierenden Pumpenfabrik und selbst Sammler, leitete den halleschen Kunstverein. Und mit dem Schweizer Juristen Hans Fehr schließlich, der 1912 nach Halle an die Universität berufen wurde, lebte einer der treuesten Freunde Emil Noldes in der Stadt. Er überbrückte nicht nur die finanziellen Nöte des Künstlers mit Ankäufen, er engagierte sich für Nolde auch in den Kunstvereinen seiner jeweiligen Lebensstationen, zuvor in Leipzig und Jena, jetzt in Halle. Gemeinsam bewegten sie etwas, das vorher kaum möglich zu sein schien.



Als Nolde im Herbst 1913 seine einjährige Südseereise antrat, autorisierte er Max Sauerlandt und Hans Fehr, während seiner Abwesenheit Ausstellungen einzufädeln und aus den Beständen seines Ateliers zu bestücken. So kam es im Februar 1914 zu einer zweiten Nolde-Ausstellung im halleschen Kunstverein, die mit fast 40 Gemälden den Erfolg der ersten sogar noch übertraf: 200 Besucher drängten sich zur Eröffnung in den kleinen Räumen der Volkslesehalle in der Salzgrafenstraße, die der Kunstverein nutzte, und kauften Nolde. Insgesamt 12 Gemälde und diverse Druckgrafiken gelangten damals in halleschen Privatbesitz, so jedenfalls verzeichnete es die Endabrechnung des Kunstvereins. Zu den Käufern gehörten neben Felix Weise, Hans Fehr und Max Sauerlandt kunstinteressierte Hallenser wie der Verleger Knapp, der Regierungsbaumeister Max Ohle, die Architekten Georg und Ulrich Roeder, der Bauingenieur Eilert Fougner, der Kunsthistoriker Hans Jantzen, die Gattinnen des Besitzers der halleschen Papiermühle und des Mitinhabers der Kaffeerösterei Hensel & Haenert sowie manche mehr.

Im April 1914 führte der hallesche Nolde-Ankauf dann zu einem Kunstskandal in der deutschen Museumsszene: Ein Antrag des Oberbürgermeisters auf Gehaltserhöhung für den Museumsdirektor Sauerlandt löste unter Abgeordneten so heftige Kritik an seiner Ausstellungs- und Sammlungspolitik aus, dass es in der Presse zu einem öffentlichen Schlagabtausch kam. Das ganze wäre eine Provinzposse geblieben, wenn nicht Wilhelm von Bode, Generaldirektor der Berliner Museen, sich durch diese Kontroverse zu einem grundsätzlichen Angriff auf die zeitgenössische Kunst und ihre Berechtigung im Museum veranlasst gesehen hätte. Sauerlandt antwortete darauf mit einem offenen Brief in der Frankfurter Zeitung, in dem er das Recht der jungen Generation forderte, für ihre Kunst einzustehen. Damit brach er der Zeitgenossenschaft im Museum eine Lanze und machte sein Haus unter den Anhängern der Moderne deutschlandweit bekannt. Für kurze Zeit stand Halle im Mittelpunkt eines Kunstdiskurses, der nach dem Ersten Weltkrieg deutschlandweit aufgegriffen wurde und die Museumslandschaft grundlegend veränderte.



Sauerlandt vertrat nicht nur die Position, dass eine Museumssammlung immer auf das Verstehen der zeitgenössischen Kunst ausgerichtet sein sollte. Er erkannte auch, dass ein Kunstverein nicht dem Publikumsgeschmack zu dienen habe oder sich auf regionale Kunst beschränkten müsse. Vielmehr sei sein innovatives Potential für das Museum zu nutzen und könne ein offensives, zeitgenössisches Programm den Besucher sehr wohl an die Kunst heran führen. Mit Nolde erprobte er diese Einstellung. Und Nolde fand in ihm einen Wegbegleiter, der sich als Kurator, Sammler und Biograf für sein Werk stark machte und ihn zum Erfolg führte.

(Katja Schneider, Kulturfalter Januar 2014)