Auf dem Weg nach Hause

An diesen Montag habe ich noch ganz genaue Erinnerungen. Ich war damals zwölf Jahre alt und trainierte bei Turbine Halle Leichtathletik. Der Sportplatz des Vereins befand sich im Norden der Stadt auf einem Felsen – dem Turbinefelsen. Wir trainierten immer am späten Nachmittag ungefähr von 16 bis 18 Uhr. Ganz genau weiß ich das nicht mehr. Im Sommer schwitzten wir auf dem Sportplatz, und im Winter zogen wir in eine Turnhalle um. Jetzt Anfang Oktober wurde es abends schon dunkel, weswegen mich meine Mutter immer mahnte, schnell nach Hause zu kommen.

An das Training an diesem Tag kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich im Dämmerlicht an der Straßenbahnhaltestelle stand und die Straßenbahn Verspätung hatte. Wie jeden Montag waren um diese Zeit nur wenige Menschen unterwegs, so dass ich mich auf einem Einzelplatz breitmachen konnte. Bis zum Stadtzentrum waren es einige Haltestellen, die die Bahn wie gewohnt abfuhr. Allerdings kam es mir so vor, als würde sie sehr langsam fahren. Kurz bevor wir den Marktplatz erreichten, stoppte die Bahn unplanmäßig auf dem Kleinschmieden. Das war eine kleine Straßenkreuzung mit Kaufhäusern wenige Gehminuten vor dem Markt. Komischerweise stiegen hier Fahrgäste aus und ein. Ich habe dem Ganzen aber keine weitere Bedeutung beigemessen und blieb sitzen. Auch dass viele Menschen auf dem Kleinschmieden unterwegs gewesen sein müssen, ist mir nicht in Erinnerung geblieben.

Ich kann mich erst wieder daran erinnern, wie die Bahn im Schritttempo auf den Marktplatz fuhr und wie ich die Szenerie betrachtete. Es war bereits dunkel, und nur die Straßenlaternen gaben spärliches Licht. Vor der Marktkirche standen mehrere große Menschengruppen. Mir schoss es sofort durch den Kopf: Das waren Sie. Sie, das waren die sogenannten Demonstranten und Volksverräter, von denen ich in den Nachrichten unseres Fernsehers etwas gesehen hatte. Wie üblich schauten wir damals erst die DDR-Nachrichten „Die aktuelle Kamera“ und dann die „Tagesschau“ im Westfernsehen. Sie, das waren die Flüchtlinge aus den Botschaften Prag und Warschau (Westfernsehen). Sie, das waren die antisozialistischen Subjekte aus  einem Zug, der in den Westen fuhr. Niemand brauchte Sie (Ostfernsehen).

Nun standen Sie hier und taten in meinen Augen eigentlich gar nichts außer rumzustehen. Ich hegte bis dahin einige Sympathien mit ihnen und war auch ein Stück neidisch, weil die, die im Westen waren, nun reisen konnten. Und ich nicht. Das fand ich doof. Ich kannte auch keinen, der „rübergemacht“ war, deswegen waren mir die Ereignisse, die damals unser Land aufwühlten, doch recht fern geblieben. Auch wurde bei uns zu Hause nicht über Politik gesprochen.

Ich löste meinen Blick von den Demonstranten und schaute mich weiter um. Auf der anderen Seite des Marktes sah ich die Anderen. Mir war nicht bewusst, wer oder was das für Leute waren. Aber dort standen die Polizisten in Uniformen, Helmen und Schlagstöcken, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Und es war klar, dass die Anderen etwas gegen Sie hatten. Die Bahn fuhr wie in Zeitlupe zwischen beiden Lagern durch, sie hielt nicht, niemand konnte ein- und aussteigen. Alle Menschen schauten wie gebannt aus der Bahn, beobachteten, was sich draußen abspielte, und versuchten, sich einen Reim darauf zu machen. Es war totenstill.

Der Schock kam, als wir den Marktplatz verließen. Die Bahn fuhr immer noch Schritttempo, und auf einmal sah ich die Volkspolizisten in Uniformen, wie ich sie kannte. Doch „Mein Freund und Helfer“, der "Volkspolizist, der es gut mit mir meint“, wie es in einem Pionierlied hieß, das jeder von uns lernen musste, hatte  Schäferhunde an der Leine. Besser gesagt waren es mehrere Polizisten, und die Hunde zerrten an ihren Leinen, bellten, fletschten die Zähne. Die Männer hatten Mühe hinter ihnen herzukommen. Sie liefen auf den Markt in Richtung von Ihnen. Nicht zu den Anderen, sondern zu den Menschen an der Marktkirche, den Demonstranten …

Es war allen klar, was passieren würde. Die Polizisten gingen mit Hunden auf die Menschen los. Von da an misstraute ich der Polizei, und das hat sich bis heute nicht geändert.

Ein paar Tage später machte das Gerücht die Runde, dass an diesem Montag in Halle Menschen verhaftet wurden. In einer Kirche in der Nähe gäbe es wohl eine Mahnwache, erzählten sich die Leute. Mir war klar, dass ich da hingehen wollte … Und das tat ich dann auch, denn Sie, die Menschen auf dem Markt, taten mir leid. Ihnen war ganz offensichtlich böses widerfahren. Dagegen wollte ich was tun….


Das geschah in Leipzig am selben Tag


Die Monate haben es eilig...

Es passiert so viel in diesen Monaten. Ich will nichts vergessen. Deswegen habe ich begonnen ein Tagebuch mit meinen Erinnerungen zu schreiben. Auch meine ganze Familie habe ich damit angesteckt. Deswegen liegt das Tagebuch im Wohnzimmer und jeder kann seine Geschichten aufschreiben. Das ist eine wirklich aufregende Sache, auch wenn bisher nur mein kleiner Bruder was eingetragen hat und ich die Fotos dazu geklebt habe.

Zum 30. Jahrestag der Wende und des Mauerfalls wollen wir euch die Geschichte von Anna erzählen. Ein junger Mensch der das Geschehen während der Wendezeit in der DDR miterlebt hat. Was würde uns Anna berichten, wenn es damals schon Internet und soziale Medien gegeben hätte? Mit Hilfe des erfundenen Charakters „Anna“ wollen wir euch auf eine Reise mitnehmen durch das bewegende und alles verändernde Jahr 1989.

Auch sie haben Fotos und Geschichten rund um den Herbst 1989 und das Frühjahr 1990? Dann scheuen Sie sich nicht und schicken uns Ihre Bilder und Ihre Geschichten. Wir veröffentlichen Sie. Schreiben Sie einfach an redaktion@~@kulturfalter.de