Die Mahnwache und mein großer Auftritt im Fernsehen

Ein paar Tage nach dem 9. Oktober ging an der Schule das Gerücht rum, dass in Halle Menschen demonstrierten, wie in anderen Städten auch und dass es viele Verhaftungen gab. Ich konnte auf dem Schulhof einen Teil zur allgemeinen Gerüchtelage beitragen und erzählte von meiner Straßenbahnfahrt am Montagabend über den Marktplatz. Mitschüler erzählten von einer Mahnwache in der St.-Georgen-Kirche in der Nähe.

Dort konnte man wohl Kerzen anzünden und irgendwie irgendwas machen. Mein Freund Marco und ich beschlossen, uns das anzuschauen. Die Georgenkirche befand sich in unserer direkten Nachbarschaft, also liefen wir nach der Schule los, um irgendwas irgendwie zu machen und um mit dabei zu sein. Eine konkrete Vorstellung hatte ich nicht. Meinen Eltern erzählte ich vorher nichts davon, weil wir eh nie viel über Politik zu Hause sprachen. Und mein inneres Gefühl sagte mir, dass es vielleicht Ärger geben könnte. Naja, der kam dann auch, aber anders als gedacht.

An der Kirche angekommen, sahen wir, was los war. An der Mauer hingen selbstgemachte Spruchbänder, die vor allen Dingen forderten, die Inhaftierten freizulassen. Außerdem waren da noch jede Menge anderer Plakate und Aufrufe, deren Inhalt ich aber nicht verstand. Am meisten beeindruckten mich die vielen Kerzen, die die Menschen aufgestellt hatten. In meiner Erinnerung müssen das Hunderte gewesen sein. Die ganze Hofmauer der Kirche war voll von ihnen, und das Wachs tropfte herrlich die Mauer hinunter. Es sah aus wie ein riesige Tropfkerze.

Als wir ankamen, wurden wir von den Menschen vor Ort neugierig und aufmerksam gemustert. Wir waren die einzigen Kinder dort, die alleine unterwegs waren. Heute weiß ich, warum die Menschen uns so aufmerksam beobachteten. Sie hatten Angst vor der Stasi. Nicht jeder konnte den Innenhof betreten. Aber da wir ganz offensichtlich harmlos waren, kamen wir rein. Drinnen schauten wir uns alles an. In einem Pavillon kauften wir Kerzen und stellten diese auf. Wir hatten das Gefühl, dabei zu sein und das war großartig.

Dann schließlich wurde es aufregend. Auf der Straße diskutierten Menschen mit einem Fernsehteam. Auf den Mikros erkannte ich sofort das Logo der Jungendsendung Elf99. Das war natürlich ein dickes Ding. Waren etwa Ingo Dubinsky und Inka Bause hier? Ich schaute die Sendung regelmäßig, und wie man damals sagte, fand ich die beiden urst cool. Das musste ich mir genauer ansehen. Also wirbelten mein Freund Marco und ich um das Kamerateam herum und beobachteten sie bei ihrer Arbeit. Wir versuchten möglichst unauffällig durchs Bild zu laufen. Wir fühlten uns unglaublich cool dabei.

An den weiteren Nachmittag habe ich keine Erinnerungen mehr. Außer das ich zu Hause voller Stolz erzählte, das ich bei der Mahnwache war und vielleicht im Fernsehen zu sehen bin. Bei Elf99, meiner Lieblingssendung. Allerdings kam diese Nachricht, wie schon vermutet, bei meinen Eltern gar nicht gut an. Sie wurden auf einmal sehr schweigsam und verbaten mir, dort noch mal hinzugehen. Warum, sagten sie mir nicht. Heute weiß ich, dass sie einfach Angst hatten. Die Mahnwache war ein Auflehnen gegen den Staat, und es hätte zu diesem Zeitpunkt auch alles anders kommen können. Und dann das eigene Kind beim Widerstand im Fernsehen für alle zu sehen. Na prost Mahlzeit! Ich hatte keine Ahnung von allem und ging am nächsten Tag wieder hin.

Am folgenden Samstag schließlich die Sendung im DDR-Fernsehen. Die ganze Familie saß gespannt vor dem Bildschirm. Ich war nach wie vor stolz und hoffte, gesehen zu werden. Meinen Eltern war, glaube ich, etwas bange aber auch sie wollten diese ersten Gehversuche eines unabhängigen Journalismus nicht verpassen. Denn dass ein DDR-Fernsehteam sich direkt und offen mit Regimekritikern auseinandersetzt, war am 20. Oktober 1989 ein echtes Novum.  

Der Mann vom Fernsehen interviewte den Pfarrer Hahnewinckel. Einen grau- und haarigen Würdenträger in Jeans, welcher die gesamte Aktion erklärte und die Forderungen, die die Mahnwache hatte, öffentlich aussprach. Und dann kurz vor Schluss, alle hatten sich schon leicht entspannt, lief ich durchs Bild. Ich platzte vor Stolz. Meine Eltern wurden blass. Was sollten sie tun? Als die Sendung vorbei war, verbaten sie mir erneut wieder hinzugehen, und diesmal mit dem Hinweis, dass das gefährlich und nichts für Kinder ist. Am nächsten Montag ging ich auf dem Rückweg von der Schule wieder zu Georgenkirche und kaufte zwei Kerzen. Diesmal war ich meiner Sache sicher. Ich wollte dieses verbotene Zeichen setzen. Ich war stolz.


Die Monate haben es eilig...

Es passiert so viel in diesen Monaten. Ich will nichts vergessen. Deswegen habe ich begonnen ein Tagebuch mit meinen Erinnerungen zu schreiben. Auch meine ganze Familie habe ich damit angesteckt. Deswegen liegt das Tagebuch im Wohnzimmer und jeder kann seine Geschichten aufschreiben. Das ist eine wirklich aufregende Sache, auch wenn bisher nur mein kleiner Bruder was eingetragen hat und ich die Fotos dazu geklebt habe.

Zum 30. Jahrestag der Wende und des Mauerfalls wollen wir euch die Geschichte von Anna erzählen. Ein junger Mensch der das Geschehen während der Wendezeit in der DDR miterlebt hat. Was würde uns Anna berichten, wenn es damals schon Internet und soziale Medien gegeben hätte? Mit Hilfe des erfundenen Charakters „Anna“ wollen wir euch auf eine Reise mitnehmen durch das bewegende und alles verändernde Jahr 1989.

Auch sie haben Fotos und Geschichten rund um den Herbst 1989 und das Frühjahr 1990? Dann scheuen Sie sich nicht und schicken uns Ihre Bilder und Ihre Geschichten. Wir veröffentlichen Sie. Schreiben Sie einfach an redaktion@~@kulturfalter.de