1989 – ein Drehbesuch

Dem Theaterstück „1989 – Vielleicht ist ja morgen schon alles anders“ wird eine besondere Ehre zuteil – es wird zum Spielfi lm. Ja, richtig gelesen. Dank  großzügiger Förderungen im Rahmen der Coronahilfen für die Kultur und dem Engagement von Schauspielerin und Vereinsmitglied des Kulturreederei e. V. Anja Jünger nimmt gerade ein neues Projekt der Kulturreederei Gestalt an. Man dreht einen kompletten Spielfilm, basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Martin Kreusch, das wiederum auf dem Hörspiel „Die Handwerker“ von Sven Hornung basiert. Der Filmdreh fand im September in der Station Endlos statt. Kulturfalterredakteur Martin Große weilte für mehrere Tage mit am Set und versteckte sich in der Deko. Lesen Sie hier sein „investigatives“ Filmfeature.

Ab in die Maske

Du bist drei Minuten zu spät“, raunzt mich Aufnahmeleiter Clemens Walther gleich zu Beginn des Drehtages um 10.08 Uhr an. Ich begleite heute Schauspieler René Klein bei seinem Dreh und schaue dem Filmteam der Kulturreederei über die Schulter. „Zum Dreh ist man pünktlich.“, klärt mich Clemens auf. „Nach fünf bis sechs Minuten Verspätung, gibt es den ersten Anruf von mir“. Clemens ist 21 Jahre alt, Aufnahmeleiter und sonst bei „In aller Freundschaft“ tätig. Ein Profi , wie man schnell merkt, der immer freundlich, aber bestimmt im Ton, den Drehablauf im Überblick hat. Zuerst schlüpft René ins Kostüm und sitzt wenige Minuten „in der Maske“, wie es auf filmisch heißt. Hier hat Antje Noch das Sagen, und ihr rinnen schon die Schweißperlen von der Stirn. Bevor es losdreht, muss jeder Schauspieler zu ihr und sich pudern und frisieren lassen. Sie hat Stress, während andere noch fröhlich Tischtennis spielen. René sieht nach kurzer Zeit jünger und frischer aus und irgendwie ebenmäßig. So eine Maskenbildnerin bräuchte man an manchen Tagen daheim auch.



Schauspielprobe

Doch zum Durchatmen bleibt René keine Zeit. Clemens steht schon wieder hinter ihm und schaut auf die Uhr – der Dreh soll beginnen. Bevor gedreht wird, wird die Szene geprobt. Heute stehen René, Claudia Berkow, Karl-Heinz Berkow und Kerstin Franke vor der Kamera. Dahinter Matthias Reger und Judith Hanke (beide Kamera), Alejandro Weyler (Ton), Maik Uhlig (Licht) und aus dem Off oft genug noch Regisseur Martin Kreusch. Bei der Schauspielprobe ist er logischerweise im Set mit dabei. Geprobt wird im ersten Moment nicht der Text, sondern vor allen Dingen Wer wann wo entlangläuft, die Hand hebt, den Kopf wendet, den Stuhl hebt und und und … Beim Film spielt man eben anders, wie alle Theaterschauspieler am Set bestätigen.

Technikprobe

Dazu kommt, dass auf der „Bühne“ ja nicht nur die Schauspieler stehen, sondern auch der Tonmann, klassisch mit langer Mikrophonstange, das Kamerateam und ganz wichtig die „Continuity“. Die Kontinuität verkörpern Lal Lucie Kreusch und August Geyler. Damit keine logischen Fehler im Film sind, achten sie auf jedes Detail: Stehen die Schachfiguren richtig? Wie viel Bier war in der letzten Szene noch im Glas? Wo stand der Stuhl? Gefühlt 2000 Fotos werden gemacht, damit es keine logischen Fehler gibt. Wahrscheinlich könnte man den ganzen Film so auch als Daumenkino sehen. Dazu muss ebenso das Licht  stimmen, die Akkus der Kameras müssen voll sein, Sichtachsen und Frontalen müssen geklärt werden. Ist das endlich geschehen, kann es losgehen.

Probe zusammen

Falsch gedacht, denn nun muss das Zusammenspiel klappen. Das heißt vor allen Dingen „Ruhe am Set“, wozu Clemens mehrfach auffordern muss. René sitzt auf seinem Stuhl und starrt das Schachbrett an. Kerstin putzt Gläser an der Bar. Karl-Heinz läuft rein, und Claudia steht erst mal am Rand. Mit einem „Bitte“ aus dem Off , gesprochen von Regisseur Martin Kreusch, geht der Zirkus los. Ein Gespräch beginnt, Schauspieler bewegen sich anhand von Bodenmarkierungen durch den Raum, die Kameras schauen zu ohne aufzuzeichnen. Und dann passiert es: Kerstin ist nicht richtig im Bild, das Mikro vom Ton dafür umso mehr, die Schachfi guren fallen um, und in der Deko stimmt was nicht. „Stopp“ ruft Martin aus dem Off . „Alles auf Anfang“, verkündet Clemens von der Seite. Alle laufen zurück auf ihre Positionen – und los geht’s. Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch ein einziges Mal und wieder. Filmdrehen ist ein Geduldspiel.



Kurz davor

"Kurz davor“, verkündet Clemens. Das bedeutet: jetzt wird es ernst. Alles wird ein letztes Mal geprüft. Inzwischen sind die Laufwege klar, die Kameraeinstellungen sitzen, Renés Schachbrett steht richtig, der Ton läuft, und die Kamerakkus sind voll. Die Spannung steigt.

Ruhe bitte! Wir drehen.

Jetzt meint es Clemens ernst. Sein Ton ist freundlich, aber man merkt, auch seine Geduld ist am Ende. Jetzt kommt der Auftritt von Johannes Albrecht, dem Mann mit der DER Klappe. „Klappe Szene 30/5, die erste“, sagt er ruhig in die Kamera und verschwindet im Dunkeln. Jetzt geht’s los!? Wieder falsch.  Kamera Set“ flüstern Matthias und Judith nacheinander, „Ton läuft“, ergänzt Alejandro, und schließlich dröhnt es „Bitte“ aus dem Off . Mit dem Kommando von Martin Kreusch startet endlich der Dreh, und die eigentliche Arbeit fängt an. Die Szene nimmt erneut Fahrt auf. Ein Gespräch beginnt, Schauspieler bewegen sich anhand von Bodenmarkierungen durch den Raum, die Kameras schauen zu und zeichnen auf.

Ansage folgt

Stopp“ ruft es am Ende aus dem Off von der Regie. „Ruhe bitte, Ansage folgt“, ergänzt Clemens. Regisseur Kreusch ist wieder im Set mit einer langen Liste mit Anmerkungen. Die Totale stimmte nicht, Kerstin war wieder nicht im Bild, René war abgeschnitten, und irgendein Lüfter störte den Ton. Wie aus dem Nichts taucht Maskenbildnerin Antje Noch auf und richtet die Gesichter wieder her. Obwohl bisher nur eine Minute gedreht wurde, sind schon zwei Stunden vergangen. Doch alle sind hochkonzentriert, jeder schraubt an seinem Detail, und die Stimmung ist irgendwie knisternd. Beginnt die Magie des Mediums Film bereits am Set? Ich denke ja. Das Filmteam dreht und dreht. Draußen scheint die Sonne, es regnet, es wird kalt und dunkel. Drinnen ist davon nichts zu spüren. Sekunde um Sekunde wird aufgezeichnet. Die erste Szene ist abgedreht, und es geht weiter. Nach vier Stunden sollte Mittagspause sein, aber niemand besucht mich auf der Terrasse. „Ruhe, wir drehen“, schallt es nach draußen. Clemens hat das Sagen. Ich warte und warte. Und wie mir schließlich alle bestätigen, ist das die Hauptschwierigkeit beim Dreh. Das Warten. Ich trolle mich schließlich von dannen. Der Film ist nach zehn Drehtagen abgedreht. Für ein Interview hat Regisseur Martin Kreusch keine Zeit. Er vertröstet mich am Telefon. Wann der Film fertig ist, will ich wissen. Er kann mir keinen Zeitpunkt
sagen, denn die Arbeit fängt jetzt erst richtig an … Schnitt!