Ein halbes Jahrhundert „Chemiearbeiterstadt“
Am 15. Juli 2024 wird Halle-Neustadt 60 Jahre alt. Eine lange und bewegte Geschichte liegt hinter dem Stadtteil Halles. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts und in den 1920er Jahren gab es Pläne, die Fläche westlich der Altstadt Halles zu bebauen, allerdings wurden sie damals noch nicht umgesetzt. Konkrete Form nahm das Projekt erst 1958 an.
In diesem Jahr fand eine Konferenz des Zentralkomitees (ZK) der SED unter dem Thema „Chemieprogramm der DDR“ statt, bei welcher es besonders um den weiteren Ausbau der Werke in Buna und Leuna ging. In diesem Zusammenhang wurde ein Beschluss gefasst, der zum Ziel hatte, eine große Anzahl von Arbeitern in der Nähe der beiden Chemiestandorte anzusiedeln. Bereits im Jahr darauf begann die Standortsuche, wobei ein besonderer Fokus aus dem Gebiet zwischen Alt-Halle, Nietleben und Passendorf lag. 1960 billigte die Bezirksleitung der SED die Bebauungspläne für dieses Areal und der Errichtung der Großstadt stand nun nichts mehr im Wege.
Am 13. Dezember begann die Arbeit an Halle-Neustadt mit der tiefenbaulichen Erschließung des späteren Wohnkomplex I und des Plattenbauwerks. Am 1. Februar 1964 wurde das Plattenbauwerk, dass die Betonteile für die geplanten Wohneinheiten fertigte, schließlich eröffnet. Mit dem vor 50 Jahren begonnen Bau startete zeitgleich die verkehrstechnische Anbindung des Großprojekts an die Arbeitsstätten Buna und Leuna. Im Zuge dessen gestaltete man den Thälmannplatz, heute Riebeckplatz, um, außerdem begann in Merseburg die Konstruktion des Thomas-Münzer-Rings und die Verbindungsstraße zwischen Halle-Neustadt und dem Chemiekombinat Buna in Schkopau wurde errichtet.
Der Grundsteinlegung für das Projekt erfolgte schließlich am 15. Juli 1964 auf dem Gelände der 1. Polytechnischen Oberschule (1.POS), heute das Landesbildungszentrum für Blinde und Sehgeschädigte, durch den damaligen 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Halle Horst Sindermann. Ab nun entstanden vorerst 22.000 Wohnungen für 79.000 Arbeiter. HaNeu, wie es von den Einwohnern auch genannt wird, entwickelte sich von nun an zu einer der größten Wohnsiedlungen Deutschlands. Ein Jahr nach der Grundsteinlegung 1965 konnten bereits die ersten Mieter einziehen, außerdem waren bereits grundlegende Einrichtungen für das gesellschaftliche Leben fertiggestellt: die 1.POS nahm ihren Betrieb auf und der erste Kindergarten eröffnete.
Der Stadtteil wird eine eigene Stadt
Ab 1967 gehörte Halle-Neustadt per Beschluss des Staatsrates der DDR nicht mehr zu Halle, sondern bildete ein eigenständiges Territorium. Erst jetzt erhielt die neue Siedlung offiziell den Namen „Halle-Neustadt“, offizieller Beiname der Arbeiterstadt war „Sozialistische Stadt der Chemiearbeiter“. Noch im selben Jahr wählten die Bürger der Siedlung ein Stadtparlament und einen Oberbürgermeister, so dass schon am 14.Juli die konstituierende Sitzung des Stadtparlaments stattfand. Im Rahmen dieser Sitzung erfolgte die Übergabe der Urkunde das Stadtrecht betreffend und somit war Halle-Neustadt als eigenständige Stadt geboren. Das Jahr 1967 hielt daneben noch einen Rekord bereit. Mit den Wohnblöcken 618-621, heute Zerbster Straße, wurde auf 380 m und in elf Geschossen Wohnraum für über 2000 Menschen geschaffen. Folglich ist der Komplex der größte jemals in der DDR errichtete Wohnblock.
Bis 1970 lebten bereits rund 39.000 Einwohner in Halle-Neustadt und was in diesen ersten sechs Jahren geschaffen wurde, liest sich in Zahlen ziemlich beeindruckend: 13.600 Wohnungen wurden gebaut, 7.200 Plätze in Ober- und Berufsschulen, 2.792 Kindergartenplätze und 1.322 Kinderkrippenplätze standen zur Verfügung. Darüber hinaus konnten Einkäufe auf ca. 3000 qm Verkaufsfläche erledigt werden und mit 1.483 Gaststättenplätzen war auch die gastronomische Versorgung gesichert. Bemerkenswerterweise wurde bis dahin und auch bis 1989 kein einziges Hotel oder Warenhaus in der Stadt errichtet, sodass die Siedlung im Wesentlichen als Schlafstadt für die Arbeiter der Buna/Leuna-Werke diente. Für kulturelle Angebote oder besondere Einkäufe musste zumeist nach Alt-Halle gefahren werden.
Was daraufhin in den nächsten Jahren noch errichtet wurde, erscheint wie eine bautechnische und gesellschaftliche Erfolgsgeschichte: 1971 wurde das Kinderkrankenhaus und das Bildungszentrum fertiggestellt. 1972 konnten die ersten Kleingärtner ihre Gärten beziehen. Die Einwohnerzahl betrug nun über 50.000. 1974 wurde das Punkthochhaus Block 224 (Am Tulpenbrunnen) zu bauen begonnen, in dass 1977 die ersten Mieter einzogen. 1974 fand im heutigen Ringelnatzweg die Übergabe der 23.000 Wohnung statt und schon ein Jahr später wurde in der Gellertstraße die 25.000 Wohnung bezogen. Doch damit nicht genug, denn 1976 eröffnet das Kaufhaus im Zentrum und drei Jahre später begann der Bau des hochmodernen und letzten Kinoneubaus der DDR „Prisma“. Die schrittweise bauliche Erschließung schlug sich natürlich auch in der Einwohnerzahl nieder, so dass Halle-Neustadt 1981 ca. 90.000 Einwohner aufwies. So beeindruckend die Entwicklung auf den ersten Blick auch war, die vollständige Umsetzung der Pläne ist bis zur Wende nicht erfolgt. So konnte nie die geplante U-Bahn-Linie errichtet werden, das im Zentrum der Stadt geplante „Hochhaus der Chemie“ wurde nie gebaut und das Rathaus, dessen Bau erst 1988 begann, wurde nie fertiggestellt. Zwar wies die Großplattensiedlung Halle-Neustadt mit ihrer reichen Verzierung des Baus mit Kunst eine Besonderheit gegenüber vergleichbaren Projekten in der DDR auf, allerdings musste auf die üppige Begrünung, wie sie etwa im I. Wohnkomplex oder idealtypisch in der 1.Sozialistischen Stadt der DDR, Eisenhüttenstadt, zu finden ist, beim Bau der Komplexe II.-IX. verzichtet werden. Der Bedarf an Wohnraum für die steigende Arbeiterzahl ließ den Bau nach den 16. Grundsätzen des Städtebaus der DDR nicht mehr zu.
Die Entwicklung nach der friedlichen Revolution 1989
Und wie ging es mit der Chemiearbeiterstadt nach 1990 weiter? Das erste große Ereignis nach der Wiedervereinigung war die Eingliederung Neustadts in Halle, denn per Bürgerentscheid verlor die Arbeiterstadt am 6.Mai 1990 ihre Eigenständigkeit. In den folgenden Jahren erfuhr die Stadt auch einige bauliche Neuerungen, so entstand etwa der Gebäudekomplex Magistralen-Careé, außerdem begann 1998 auf der Magistrale der Gleisbau für die Straßenbahnanbindung. 1999 war die Straßenbahnverbindung von der Magistrale bis zur Soltauer Straße voll ausgebaut und somit erfuhr Neustadt nach der Verbindung mit der Hochstraße und dem schon seit 1969 durch Neustadt laufenden S-Bahn-Verkehr von Halle Dölau zum Hauptbahnhof nun die komplette Verkehrsanbindung an die Stadt. Überdies musste das Kino „Prisma“ 1999 weichen und wurde durch das 2000 eröffnete Neustadt-Center ersetzt, das mit seinen 10.000 qm Nutzfläche Platz für Einkaufsmöglichkeiten, Kino und Kultur- und Sozialeinrichtungen bietet.
Da die Baumasse in Halle-Neustadt auch nach vielen Jahren erhalten bleiben sollte, wurde der Stadtteil 2001 in die Landesinitiative des Landes Sachsen-Anhalt URBAN 21 aufgenommen. Durch die Initiative sollten, gefördert durch den Bund, das Land, den EU-Strukturfonds EFRE (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung) und ESF (Europäischer Sozialfonds), Erneuerungsmaßnahmen umgesetzt werden. Zwar konnten mit Mitteln aus dieser Initiative bis 2006 Umbaumaßnahmen im Stadtgebiet finanziert werden, allerdings können nicht alle Bauten aus der DDR erhalten bleiben, zu groß ist die Abwanderung. Und so begann ab 2003 der Abriss einiger Häuser, beginnend mit einem Zwölfgeschosser in der Azaleenstraße 52-55. Es ist zu befürchten, dass größere Teile der Plattenbauten das gleiche Schicksal erleiden werden, das ähnlichen Gebäuden auch in anderen Städten des Ostens widerfährt. Wenn auch mit URBAN 21 Einiges getan wurde, um die Baumasse zu erhalten, kann nicht geleugnet werden, dass mit einer Einwohnerzahl von rund 45.000 (Stand 2012) bei Weitem keine Vollauslastung gegeben ist. Ganz leicht wird es sich damit aber nicht gemacht. So stehen vier der fünf direkt im Zentrum von Neustadt gelegenen Hochhäuser, auch Scheiben genannt, leer. Sie bilden das architektonische Rückgrat der inneren Neustadt, ein Abriss ist bis heute nicht beschlossen. Wie es mit ihnen und dem Rest der ehemaligen Arbeiterstadt weitergeht ist ungewiss.