Ein wunderbares Lichterspiel – Architekt Heiner Hinrichs über Halle-Neustadt
Die Geschichte von Halle-Neustadt begann 1963. Nach der Grundsteinlegung der "Chemiearbeiterstadt“ wurde das ehrgeizige Projekt, eine komplette Stadt für mehr als 100.000 Einwohner in nur wenigen Jahren aufzubauen, realisiert. Einer, der daran einen wesentlichen Anteil hatte, ist Heiner Hinrichs. Auf einer der größten Baustellen und ambitioniertesten Projekte der DDR betreute er als Bauleiter alle Zweckbauten und war unter anderem für die Schwimmhalle, die runden Kindergärten oder auch den sogenannten „Treff“ verantwortlich. Wir besuchten Heiner Hinrichs zu Hause und sprachen mit ihm über seine Zeit als Bauleiter, seine Erlebnisse und seine Sicht auf Halle-Neustadts Entwicklung
Kulturfalter: Seit Mitte der 60er-Jahre waren Sie Bauleiter für Halle-Neustadt. Was ist das Wichtigste, was Sie als Bauleiter von Ha-Neu gelernt haben?
Heiner Hinrichs: Das war der tägliche Kampf, die Termine einzuhalten. Denn es gab kritische und subkritische Termine. Schon damals haben wir die sogenannte „Methode des kritischen Pfades“ oder auch „Netzplantechnik“ angewendet, wodurch der Projektablauf exakt durchdacht und die Dauer insgesamt verringert wurde. Das war das Entscheidende. Nicht der Endtermin, wo dann womöglich irgendein Staatsfunktionär kam und schwafelte, obwohl der überhaupt keine Ahnung hatte…
Was war das Skurrilste, was Sie auf der Baustelle erlebten?
Das war wohl der Umstand, dass ich oft ohne Projekte entschieden habe, hier wird gebaut: zum Beispiel den ersten runden Kindergarten – auch Deltakindergarten genannt – in Halle-Neustadt. Horst Sindermann (der damalige Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle) kam zu mir und meinte: ‚Heiner, wir brauchen Kindergärten.‘ Er brachte den Gedanken auf, einen Kindergarten nach der Konstruktionsweise von ‚Schalenmüller‘ (Herbert Müller ist der Entwickler der hyperbolischen Paraboloidschalen) zu bauen. Mit ihm hatte ich ja schon 1967 zusammen die Sporthalle im Bildungszentrum nach dieser Art gebaut, also einen geschlossenen Körper aus Schalentragwerken. Mit einer Skizze in der Hand haben wir dann den Kindergarten gebaut – alles hat geklappt, bis auf den Millimeter.
Mit dem Hallenser Architekten Herbert „Schalenmüller“ Müller verbauten Sie also die sogenannten HP-Schalen. Das ist eine besondere Konstruktionsform, die aus hyperbolischen Paraboloids besteht und belastbare Dächer über weite Flächen ermöglicht. Wie kam es dazu?
Nun, damals gab es eine Hysterie in der DDR, dass man unbedingt mit Metallleichtbau bauen wollte, obwohl es wenig Metall gab. Da kam ich dann mit den Schalen an und war natürlich auch ein wenig rekordsüchtig. Informiert über die Zahlen und Montagewerte des Metallleichtbaus wollte ich auf dem Feld Qualität mit Effektivität verbinden. Den zweiten Deltakindergarten zum Beispiel montierte ich in nur einer Nacht.
Bei den HP-Schalen handelt es sich um eine Konstruktionsweise, die Ästhetik und Funktionalität verbindet. War das Zufall oder Anspruch? Immerhin besticht diese Bauweise durch geringen Materialaufwand.
Ja, natürlich! Wo die Schalenwerke richtig gemacht wurden, waren sie ästhetisch. Ich würde meinem guten Freund Herbert Müller jedoch unterstellen, dass es sich um einen Zufall handelte. Nichtsdestotrotz bin ich ein wahrer Verfechter der Schalenkonstruktion. Den Höhepunkt dieser Bauweise, neben den Kindergärten und der Schwimmhalle, bildete aber wohl die Überdachung des „Treff“ – des Versorgungskomplexes des zweiten Wohnkomplexes. Der Baukörper hatte eine Abmessung von 62 mal 62 Meter. Das war 1968 und es war eine sehr elegante Bauweise!
Wie beurteilen Sie die Entwicklung Halle-Neustadts seit der Grundsteinlegung?
Grenzwertig. Zwar ist es sensationell, dass die Straßenbahn heute bis in den Westen fährt und so war es ja von Beginn an konzipiert. Von den fünf „Scheiben“ jedoch, die im Zentrum stehen, sind drei leer.
Viele Menschen verbinden mit Plattenbauten heute eher negative Urteile. Doch zu Beginn wollten alle nach Halle-Neustadt. Wie haben Sie den Ort in Erinnerung?
Gerade wenn man von Eisleben aus in der Dämmerung nach Halle-Neustadt hineinfuhr, bot sich ein wunderbares Lichterspiel: Alle Fenster waren beleuchtet – damals waren ja alle Wohnungen bewohnt! Dieses Schauspiel zu erleben, war mir immer eine Erfüllung.
Vermissen Sie die Baustelle?
Ja, natürlich. Nun werde ich bald 77, aber wenn ich aus dem Fenster schaue und dort Bauarbeiten sehe, juckt es mich noch immer gewaltig in den Fingern. Am liebsten würde ich rüber gehen…
Ihre Familie kommt ursprünglich aus Hamburg, Sie wohnen seit den 60er-Jahren in Halle. Welcher Ort in Halle ist Ihnen am liebsten?
Gehe ich vom Maßstab der Achtung aus, so sind es die Franckeschen Stiftungen. Ansonsten ist es das Interhotel, welches 1964/65 in 17 Monaten gebaut wurde – da war keiner schneller. (schmunzelt) Zu der Zeit gab es auch in Westdeutschland keinen besseren Bau. Dieses Hotel hat mich persönlich geformt, es war ja eine große und meine erste Baustelle. Und dann natürlich Halle-Neustadt. Dort war ich mit Herzblut dabei – es sind schon heiße Erinnerungen.
Wie würden Sie Ha-Neu’s architektonische Zukunft beurteilen, bzw. was wünschen Sie Ha-Neu für die nächsten 50 Jahre?
Alle wertvollen Hinweise von Städteplanern, wie die des ehemaligen iranischen Direktors des Bauhauses Dessau, Halle-Neustadt als Ganzes und zwar als Denkmal zu betrachten, wurden aus Gewinnstreben nicht beachtet. Heute ist Halle Neustadt meines Erachtens zerstört. Das einzige, was noch funktioniert, ist die Straßenbahn. Vielleicht macht die derzeitige Geschäftsführerin der GWG, Jana Kozyk – eine sehr kompetente Frau – noch etwas Gutes. Ich hoffe, dass die jetzt noch übrig geblieben Bauten gerettet werden. Allen voran die Scheiben, weil die Hochhäuser der letzte Takt der Neustädter Silhouette sind. Wenn das auch noch verschwindet…