Zweiter Teil des Interviews - Stefan Aust über den Mauerfall, Pferdezucht und Nine-Eleven

Sie haben als Journalist sehr viele bekannte Menschen getroffen, auch Ereignisse von großer Bedeutung miterlebt, mitbekommen. Was davon war das Beeindruckendste, das für Sie Prägendste?

Das hängt nicht unbedingt damit zusammen, wie bedeutsam das Ereignis selbst ist. Sondern damit, wie intensiv ich mich damit beschäftigt habe, wie interessant der Vorgang war und welche eigenen Recherchen man dort investieren konnte. Das ist dann nicht immer das weltbewegende Ereignis. Zum Beispiel dieser Mordfall Ulrich Schmücker (ein Terrorist und V-Mann des Verfassungsschutzes, Anm. d. Red.) hat mich Jahre beschäftigt. Das muss ich wirklich sagen und die RAF auch.

Die ganze Nine-Eleven-Geschichte hat mich intensiv beschäftigt, ohne dass ich jetzt sagen kann, dass ich da nun besondere Erkenntnisse herausgefunden habe. Das fand ich politisch interessant, weil es für mich ein Beispiel war, wie Terrorismus funktioniert. Terrorismus ist immer eine Propagandaaktion mit echten Toten. Und zwar mit der Absicht, erst einmal die Leute in Angst und Schrecken zu versetzen und Öffentlichkeit für die eigenen Themen zu schaffen. Man kalkuliert die Reaktion dessen, den man angreift, mit ein. Wie die RAF immer Mao zitiert hat, der sagt, wenn der Feind auf uns reagiert, dann ist das nicht schlecht, sondern gut, weil es zeigt, dass unsere Aktivitäten Erfolge gehabt haben.

So behaupte ich, dass Bin Laden bei Nine Eleven die Reaktion der Amerikaner einkalkuliert hat. Und darüber habe ich mal einen ganzen Film gemacht, zehn Jahre danach, für die ARD, mit dem Titel „Die Falle Nine Eleven“. Im Grunde hat er die Amerikaner richtig in eine Falle gelockt. Die sind reingegangen, erst mal in die Falle Afghanistan, dann in die Falle Irakkrieg, dann auch in die moralische Falle, weil sie anfingen mit Guantánamo, mit Waterboarding und all diesen Dingen.

Wir haben damals verschiedene Filme darüber gemacht. Es war uns absolut klar, dass die irgendwann geschlagen abziehen. Und deswegen hat es mich nicht sehr gewundert, dass die nach 20 Jahren da abgezogen sind und dass das so ähnlich aussah wie der Abzug aus Saigon.

Sehen Sie das auch so, dass die Amerikaner da völlig ohne Konzept reingegangen sind, nur am Anfang das Ziel, Bin Laden zu treffen, und ansonsten nicht mehr wussten, wie es weitergeht?

Es gibt ja immer unterschiedliche Konzepte. Das eine Konzept war natürlich, dass sie dort reingehen mussten. Und dass sie Bin Laden und Al Qaida suchen mussten, um sie festzusetzen, das war völlig klar. Aber dass sie bleiben und glauben, dass sie aus Afghanistan ein Land nach westlichen Kriterien machen können, das war ziemlich naiv, um nicht zu sagen blöd. Hochmoralisch, wie ja viele Dinge aus großer Moral dann umschlagen. Aber es war nicht sehr klug. Das hat Helmut Schmidt damals schon gesagt in einem unserer Filme. Da hatten wir, glaube ich, einen Auftritt von Helmut Schmidt bei der Bundeswehr. Wo er gesagt hat, in puncto Afghanistan gab es nur einen einzigen Staatschef, der es richtig gemacht hat. Das war Alexander der Große. Schnell rein und schnell über den Khyberpass wieder raus.

Sie sind Fernsehjournalist, Sie waren aber auch Chefredakteur des „Spiegel“, Print oder Fernsehen - welches Medium liegt Ihnen mehr?

Das kam immer ein bisschen darauf an, in welcher Zeit was war. Natürlich war die Zeit als „Spiegel“-Chefredakteur die wichtigste, weil man da am meisten bewegen konnte. Aber ich habe im „Spiegel“ praktisch nichts geschrieben. Ich schreibe heute in einer Woche mehr, als ich in 13 Jahren beim „Spiegel“ geschrieben habe. Aber das war eben der wichtigste Job, der im Journalismus zu vergeben ist. Insofern war das sicherlich die interessanteste Zeit.

Aber wenn ich das einmal persönlich betrachte, journalistisch betrachte, was für mich die interessanteste Zeit war, das waren die Jahre vorher bei Spiegel-TV. Die Arbeit bei „Panorama“ war lange nicht so interessant. Ich habe da relativ viel gemacht, weil ich gesagt habe, jede „Panorama“-Sendung ohne Film von mir ist eine verlorene „Panorama“-Sendung. Ich habe wahrscheinlich mehr „Panorama“-Beiträge gemacht als jeder andere. Also einmal im Monat musste ich da meinen Beitrag haben. Aber was ist einmal im Monat? Das ist ein Witz.



War die Zeit des Mauerfalls für Sie als Journalist die wichtigste Zeit?

Mit weitem Abstand. Das ist ja keine Frage. Weil ich natürlich dieses gespaltene Deutschland und den Kalten Krieg und das alles verfolgt hatte. Und im Gegensatz zu anderen auch immer der Meinung war, das muss nicht alles für die Ewigkeit sein. Ich glaube, ich war der Einzige, der vorher wusste, dass die Mauer fällt.

Ja, wirklich. Das kann ich sogar beweisen. Es war nämlich so: Es war der letzte Sommer der DDR - also mit den ganzen Flüchtlingen und was weiß ich. Dass sich da was tut, das konnte man erkennen. Und dann war Honecker abgesetzt worden, Krenz sein Nachfolger. Und als eine der ersten Maßnahmen war, dass Krenz die Ausreisesperre für die Tschechoslowakei aufgehoben hat. Also Honecker hatte verfügt: Ausreisesperre, Visa-Sperre für Prag. Am Montagabend hatte ich Besuch vom damaligen Chefredakteur des „Spiegel“, Werner Funk, bei mir zu Hause. Der hat sich furchtbar darüber aufgeregt. Er hat gesagt, der ist doch völlig verrückt, die laufen ihm doch jetzt alle weg und das gibt doch eine riesengroße Krise. Dann habe ich gesagt: „Weißt du was, Werner, dem bleibt gar nichts anderes übrig. Und wenn ich jetzt an der Stelle von Egon Krenz wäre, dann würde ich die Mauer aufmachen.“ Da hat er mich ausgelacht.

Als ich ins Haus zurückgegangen bin, habe ich gedacht, die sind auch nicht blöder als du, die machen das. Darauf bin ich am nächsten Morgen, Dienstagmorgen, in die Redaktion zu Spiegel-TV und habe mir den erstbesten Reporter gesucht, der da gerade rumlief. Das war Georg Mascolo. Und habe zu ihm gesagt: „Georg, fahr mal nach Ostberlin und nimm dir ein Kamerateam mit“. Und er: „Was für ein Stück soll ich denn machen, was für eine Geschichte?“ Darauf ich: „Keine Geschichte. Bleib mal in der Nähe der Mauer, da passiert was.“ Er lachte und fragte „Wie stellst du dir das vor?“ Ich blieb dabei, und er fuhr hin.

Er war am Donnerstag in der Nähe der Bornholmer Straße ein einer Kneipe am Prenzlauer Berg, als diese Pressekonferenz von Schabowski war. Schließlich hat er genau das gemacht, was ich gesagt hatte. Er ist dahin gefahren, wo die Leute waren, war in der Bornholmer Straße und ist da geblieben. Das war sein ganz großes Verdienst. Er blieb stundenlang und hat eins zu eins mitgedreht, bis er den Moment hatte, wo der Schlagbaum aufging. Und wir waren die einzigen, die das gedreht haben. Die Bilder sind übrigens inzwischen Unesco-Weltkulturerbe.

Zeigt das aus Ihrer Sicht, dass man als Chefredakteur, Herausgeber, als Entscheider gerade im Bereich des Journalismus auch Instinkt haben muss?

Ja. Aber ich meine, was ist Instinkt? Instinkt ist ja im Grunde nichts anderes als gesammelte Erfahrung. Und einigermaßen logisches Denken. Und das habe ich immer versucht mir zu bewahren und nicht immer gedacht, was alle Leute denken und was so die Mehrheitsmeinung ist. Sondern habe immer gedacht, nee, da stimmt was nicht.

Zum Beispiel letzte Woche war ich in Wien zu einer Veranstaltung. Im Flugzeug kamen mein Koautor Adrian Geiges und ich ins Grübeln ob der Menschenmassen im Flughafen. Könnte es sein, dass dieser Impfstoff nicht so funktioniert, wie alle Leute glauben? Kann es sein, dass Biontec nicht das hält, was es versprochen hat? Und es hat drei Tage gedauert, bis dann plötzlich in diesem großen Interview dieser Virologe aus Halle, Kekulé, in der „Welt“ gesagt hat, dass es offenbar tatsächlich so ist, dass das total überschätzt wurde.

Das heißt im Prinzip auch, allein scharfes Beobachten und Hintergrundwissen sind wichtig für einen Journalisten?

Hintergrundwissen ja, aber man muss gar nicht so wahnsinnig viel haben, um sich einfach so einen kritischen Blick auf die Sache zu reservieren. Das habe ich eigentlich immer gemacht.


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In einem Text über Sie habe ich gelesen, Sie wären in der Zeit, als Sie Chefredakteur beim „Spiegel“ waren, der mächtigste Journalist in Deutschland. Ist das eine Zuschreibung, die Sie…?

Quatsch. Das ist Blödsinn. Jedenfalls habe ich das nie so gesehen. Man hatte natürlich einen gewissen Einfluss dadurch, dass der „Spiegel“ Einfluss hatte. Der „Spiegel“ war ja damals in der Zeit das wichtigste Medium, das es gab in Deutschland. Und diesen Einfluss hatte der „Spiegel“ aber meiner Ansicht nach, weil er eben nicht versucht hat, Politik zu machen. Ich habe das dann erst später, als ich mal einen Nachruf auf Augstein geschrieben habe, in einem Satz bei ihm gefunden, er lautete: Der Journalist hat nicht das Mandat, Wahlen zu gewinnen oder Parteien oder Politiker zu promovieren. Wenn er versucht, Regierungen und Koalitionen herbeizuschreiben, dann gerät er auf die Verliererstraße. Wenn er aber Informationen liefert, die Leute aufklärt, sagt, was ist – daher kommt der Begriff nämlich, aus diesem Satz, dann hat er wirklichen Einfluss.

Das heißt, er hat nur Einfluss darauf, dass er Informationen liefert, aus denen die Leute sich dann ein Bild machen können. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn er anfängt, den Leuten zu erzählen, was sie gefälligst denken sollen oder welche Koalitionen uns regieren sollen oder wer Kanzler werden soll oder sonst was alles, dann gerät er auf die Verliererstraße. Und da sind die meisten im Augenblick, oder viele sind auf dieser Verliererstraße, weil sie Politik machen wollen.

Sie haben in Ihrem Buch beschrieben, Ihr Vater hätte den „Spiegel“ mal als Scheißblatt bezeichnet. Hat er das noch erlebt, dass Sie „Spiegel“-Chefredakteur wurden?

Nee, hat er nicht erlebt. Das habe ich ihm erspart.

Wie hätten Sie es ihm erklärt?

Ich hätte ihm das gar nicht erklärt. Nicht einmal, als ich zu „Konkret“ gegangen bin, was ich nun nicht gerade aus politischen Gründen gemacht habe. Er hat kein Wort gesagt, die haben mir absolute Freiheit gelassen. Und im Übrigen hatte meine Mutter schon vor mir beim „Spiegel“ gearbeitet.

Was war sie da?

In der Buchhaltung.

Letzte Frage: Sie haben eine Pferdezucht, wenn ich das richtig gelesen habe…

Einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb.

Und Sie sind auch Herausgeber der „Welt“. Was ist die schönere Aufgabe: Herausgeber oder Pferdezüchter?

Das, was ich gerade mache. Also ich möchte nicht alleine auf dem Hof sitzen und nur Pferde züchten und damit Geld verlieren. (lacht) Für mich ist das ein Hobby, in der Zwischenzeit ein bisschen zu großes und ein bisschen zu verantwortungsvolles, weil Sie sich ja um tausend Sachen kümmern müssen. Und es läuft ja auch nicht immer so, wie Sie sich das vorstellen. Aber das gibt einem ein bisschen Bodenhaftung. Auf einem Pferd durch den Wald zu reiten und draufzubleiben, oder wenn man runterfliegt, wieder aufzusteigen, das hilft einem auch bei anderen Schwierigkeiten.

Das glaube ich. Herr Aust, vielen Dank für das Gespräch.

Lesen Sie hier den ersten Teil des Interviews.