Tagfalter-Monitoring: Spazierengehen im Dienste der Wissenschaft

Vorsichtig lugt die Sonne hinter den Wolken hervor. Die ersten kleinen grünen Frühlingsknospen und Grashälmchen recken sich verstohlen der wohligen Wärme und dem zarten Licht des Frühlingsmorgens entgegen. Es ist ein Morgen Mitte April, an dem Elisabeth Kühn ihren Arbeitsplatz hinter einer Tankstelle betritt und auf Freiwillige wartet. Doch an diesem Morgen kommt nur einer, der für die Wissenschaft spazieren gehen möchte – und der ist nicht ganz freiwillig hier.
Elisabeth Kühn ist Wissenschaftlerin am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Leipzig-Halle (UfZ). Die Biologin ist verantwortlich für das bundesweite Projekt „Tagfalter-Monitoring“, für welches das UfZ in Halle die Koordinierung übernommen hat. Es geht bei unserem Spaziergang durch die Brandberge also um Schmetterlinge. Diesen bei allen Romantikern beliebten Insekten wird nachgesagt, dass sie immer weniger werden. Man vermutet, dass Arten aussterben und dass neue Arten auf Grund des Klimawandels einwandern. Aber wie verhält es sich tatsächlich? Lassen sich Rückschlüsse auf Klimawandel und Landschaftsveränderungen aus den Veränderungen der Falterpopulationen schließen? Wissenschaftlich gesicherte Aussagen basieren auf Daten.
Genau darum geht es bei dem Projekt „Tagfalter-Monitoring“. „In anderen europäischen Ländern, wie Großbritannien, den Niederlanden oder Spanien, ist man schon wesentlich länger dabei, Daten über die Falterpopulationen zu erheben“, erklärt Frau Kühn. Währenddessen bahnen wir uns, die Tankstelle im Blick, den Weg in die halleschen Brandberge. „Um die Fragen zu beantworten, müssen über zehn Jahre hinweg Daten gesammelt werden“, so die Biologin. Diese Daten werden in sogenannten Transekten erhoben. In Deutschland macht man dies seit dem Frühjahr 2005. Bei einem Transekt handelt es sich um ein 250 Meter langes und fünf Meter breites Wiesenareal, welches sich in einem repräsentativen Gebiet befindet. Die Gebiete sind nicht besonders gekennzeichnet. Um das hallesche Transekt zu finden, nutzt Frau Kühn ein GPS-Gerät, welches sie scharf beobachtet. Neben GPS gehören eine Klemmmappe, ein Bestimmungsbuch, ein Erhebungsbogen und ein Fangbehälter zur Ausrüstung eines Tagfalterzählers. Insgesamt gibt es 500 Transekte in Deutschland. Diese werden von freiwilligen Schmetterlingszählern und Wissenschaftlern betreut. „Ohne die ehrenamtlichen Helfer, könnte man diese notwendige Datenmenge nicht erheben“, so Elisabeth Kühn. Die Helfer bekommen eine Schulung und können dann ebenfalls mit der gesamten Ausrüstung „ihr“ Transekt betreuen.
Das bedeutet, einmal in der Woche einen Spaziergang zu machen und Schmetterlinge zu beobachten und zu zählen. Die Daten werden anschließend über die Internetseite www.tagfalter-monitoring.de zentral erfasst. In den Brandbergen in Halle wurde im April 2012 ein neues Transekt eingerichtet, welches von Frau Kühn betreut wird und ihr eine wunderbare Gelegenheit bietet, einmal in der Woche an die frische Luft zu gehen. Leider sehen wir an diesem Tag keinen einzigen Schmetterling, was Frau Kühn aber nicht sonderlich frustriert. Sie erklärt, dass die sogenannten Nullsichtungen sehr wichtig sind, da sie Aufschluss darüber geben, wann Schmetterlinge anfangen und aufhören zu fliegen. Neben dem Datum werden zu jeder Zählung auch die Wetterdaten erhoben. So entsteht nach und nach ein einzigartiger Schatz an Daten, der in zwei bis drei Jahren die ersten Auskünfte geben kann. Die Forscher wissen zwar schon einiges über Schmetterlinge, zum Beispiel, dass der Distelfalter von Nordafrika aus über das Mittelmeer und die Alpen hinweg bis nach Dänemark fliegt. Aber warum der Kohlweißling in einigen Ecken Deutschlands als einziger Falter flattert, ist nicht bekannt.
„Im Gegensatz zu besonderen und seltenen Arten, wissen wir über die Alltäglichen vergleichsweise wenig. Daher sind die Daten so wichtig“, so Frau Kühn, die daraufhin von einer älteren Dame erzählt, die in ihrem Transekt nur den Kohlweißling hat. Nachdem die Wissenschaftlerin ihr den Sinn und die Seltenheit gerader solcher Daten erklärte, beschloß die ältere Dame aus dem Rheingebiet ihren wöchentlichen Spaziergangbeizubehalten.
Da wir leider nun gar keinen Schmetterling zu Gesicht bekommen und außer einer wilden Birne und dem Fingerkraut kaum etwas blüht, erzählt Frau Kühn, was alles zu sehen wäre. Dazu gehört die Berghexe. Dieser kleine und unscheinbare Tagfalter liebt wärmere Gegenden und kargen felsigen Trockenrasen und Halbtrockenrasen, für welche die Brandberge unter Naturwissenschaftlern bekannt sind. Die Berghexe ist in Deutschland stark gefährdet, und eine Sichtung wäre eine Sensation. Woher der Falter seinen Namen hat, weiß man leider nicht. Eventuell hängt es mit seiner tänzerischen Art des Fliegens und mit seinem unauffälligen Äußeren zusammen, dass er wie eine Hexe zwischen den Felsen verschwinden kann. Aufgrund der ausgesprochen dünnen Datenlage beim heutigen Spaziergang darf für den Laien eine Frage nicht ausbleiben. „Werden aufgund des Klimawandels und der Umweltzerstörung die Schmetterlinge immer weniger?“ Dazu erklärt Frau Kühn gelassen: „Das können wir nicht feststellen. Die Gesamtzahl der Arten verändert sich nicht, aber sie wandern. Schmetterlinge die es kühler mögen, wandern gen Norden und werden durch Wärme liebende Arten aus dem Süden ersetzt.“ Genaues weiß man erst in ungefähr zwei Jahren, wenn der Datenschatz des UfZ gehoben werden kann.
Notwendigerweise müssen in Halle und dem südlichen Sachsen- Anhalt noch weitere Transekte eingerichtet werden, um eine möglichst gute Datenlage zu erhalten. Gesucht werden also ehrenamtliche Helfer, die gern spazieren gehen und für die Wissenschaft aktiv sein möchten. Wie ein Transekt betreut wird, erfahren alle Interessierten jeden Mittwoch (außer bei Regen). Denn dann observiert Elisabeth Kühn ihr Gebiet in den Brandbergen. Wer möchte, kann sich 10 Uhr an der Shell-Tankstelle in der Dölauer Straße einfinden, um der Wissenschaftlerin über die Schulter zu schauen.