Zwei Dichter, dicht an dicht - Kurt Bauchwitz (12.7.1890- 18.7.1974) und Edgar Hilsenrath (*2.4.1926)

In der Bernburger Straße stehen dicht aneinander gebaut zwei Häuser, die Nr. 29 und die Nr. 30. Welches das schönere ist? Nun, Geschmacksache. Beide gehören dem späten Gründerzeitstil des Mühlwegviertels an: ein bisschen historisierend, ein bisschen pompös – ursprünglich. Sichtbarer Unterschied: Die Nr. 29 ist voluminöser, die Nr. 30 schmaler, dafür fantasievoller von der Fassade her. Es ist charakteristisch für das Deutschland der Weimarer Republik, dass sich hier Schicksale entwickelten, mit jüdischem Hintergrund. Den Eltern des in Nr. 29 aufgewachsenen Expressionisten Kurt Bauchwitz (im Exil Roy C. Bates) konnte der faschistische Rassenwahn nichts mehr anhaben. Kurt Bauchwitz selbst hat als junger und erfolgreicher Anwalt nach seiner Ausbildung in Berlin gelebt. Von dort aus erwirkte er seine juristische Promotion in Halle.

Da war er längst ein „shootingstar“ der expressionistischen Szene und hatte mit seinem Lyrikband „Der Lebendige“ Ruhm erworben. 1939 musste er Deutschland verlassen, über Japan in Richtung USA. Die Leidenschaft fürs Schreiben hat er seit der Schulzeit (Stadtgymnasium) stets behalten. So voluminös sein Jugendhaus erscheint, so schlank und zugespitzt wirkt seine aphorismenreiche Lyrik. Verfeinern konnte er sie in Japan (Haiku). Gekannt haben sich Kurt Bauchwitz und Edgar Hilsenrath damals in Halle nicht. Der Einzug der Familie Hilsenrath in die Nr. 30 überlappte mit der Auflösung des Bauchwitzschen Familienverbandes. Dennoch: Haus an Haus stand ihre Inspirationsquelle: zeitlich bei Hilsenrath vom Kindergarten bis zur Grundschule (Neumarktschule), bei Bauchwitz bis zum Studium. So wenig ausladend die elterliche Wohnung im Haus Nr. 30 auch heute erscheint, in seinem schriftstellerischen Werk liebt Hilsenrath das voluminöse Erzählen – allerdings mit provozierenden Spitzen, Spritzen und Breitseiten, z.B. „Der Nazi & der Friseur“.



Am poetischsten und weisesten erscheint „Das Märchen vom letzten Gedanken“. Er hatte, im Gegensatz zu Bauchwitz, keine finanziell wohlgeordnete Exilsituation. Der Vater brachte die Familie kurzerhand in die scheinbar sichere Bukowina. Turbulente Lebensabschnitte folgten, u.a. Israel, USA.Seine Prosa ist durchdrungen vom jüdischen Schicksal. Die Herkunft der jüdischen Familien Bauchwitz und Hilsenrath, aus dem „Osten“ im 19. Jahrhundert eingewandert, ist nicht ungewöhnlich. Auch am Beispiel des dritten mit Halle verbundenen Autors, Alfred Wolfenstein, lässt sich das verifizieren. Bauchwitz, Hilsenrath und Wolfenstein sind Kinder der dritten Generation nach der Einwanderung nach Halle, die dann die Position der Herkunftsfamilie sozial markant überschritten. Die Vorfahren waren Kleiderverkäufer, Möbelhändler und Eiergrossisten. Erst die angesprochene Generation konnte das Reservoir an Intelligenz und Bildung entfalten. 

Die Bindung an den religiösen Hintergrund des Judentums ist bei Edgar und Kurt trotz Zugehörigkeit ihrer Elternhäuser zur Synagogengemeinde unterschiedlich. Edgar Hilsenrath gilt neben dem Prager Autor Franz Werfel als der große Armenienfreund. Es ist eine Frage wert, warum gerade zwei jüdische Autoren den Genozid an den Armeniern zu eindrucksvollen Kunstwerken gemacht haben. Hilsenrath lebt heute in Berlin, der Prager Werfel („Die vierzig Tage des Musa Dagh“) starb 1945 in den USA. Die Antwort ist einfach und grausam zugleich: Werfel schrieb prophetisch, das verwandte jüdische Schicksal vorwegnehmend, Hilsenrath schreibt aus Erfahrung. Die Dichter aus der Bernburger Straße vereint eine seltsame Ähnlichkeit in der poetischen Auseinandersetzung mit der Tragik des Daseins, ob privat, ob weltpolitisch.



So verblüffte der junge Bauchwitz seine Leser mit der Provokation nach dem Begräbnis der Mutter, wessen Eigentum die Kränze auf dem frischen Grabe seien. Er umwandte seine Ergriffenheit mit juristischen Spitzfindigkeiten. Diese provokante Verfremdungstaktik findet sich immer wieder in seinen Arbeiten. Und sie durchzieht auch das Werk von Edgar Hilsenrath, wie in den Schlusskapiteln seines Armenienromans. Da sitzen auf Dächern der Krematorien die Seelen (quasi als Zugvögel) derer, die gerade durch die körperliche Vernichtung gegangen sind: Ein Armenier, ein Jude, ein Türke. Und was passiert: die Seelen zanken sich. Blasphemisch ist da gar nichts – nur eine große Sehnsucht nach Harmonie und Heimat. Bei Bauchwitz finden wir sie ganz lapidar als Schluss eines Gedichts aus dem Exil in Japan: „... daß es in mir heimatlich Halle“.

Texte beider Autoren in: „Kein falsches Bild“, hg. von I. von Lips, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2011. Im Buchhandel erhältlich.

(Ingeborg von Lips, Kulturfalter August 2012)