Zur Trunksuchtsfrage in Halle an der Saale

„Getrunken hat man schon immer“ ist ein weitläufig bekannter Ausspruch, der sich auf die Zufuhr alkoholhaltiger Getränke bezieht. Ein soziales Netzwerk bietet Betroffenen der Saalestadt Hilfen an und zeigt Wege aus der Sucht auf. Doch wie war das vor ca. 100 Jahren?

Zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden im Deutschen Reich Fürsorgestellen. Sie dienten vor allem der Mütter- und Säuglingsfürsorge, der Bekämpfung des Alkoholismus und der Tuberkulose. Fürsorgestellen boten einen Anlaufpunkt für Menschen mit körperlichen Gebrechen oder sozialen Problemen. Die erste Auskunftsstelle für Trinkerfürsorge wurde in Bielefeld 1906 gegründet. 1907 entstand eine weitere in Hamburg. An der Spitze stand ein Verwaltungsbeamter, ein Arzt oder ein Theologe. Neben dem Leiter gab es oft einen Ausschuss der Trinkerfürsorgestelle. Dieser setzte sich aus Vertretern der ortsansässigen alkoholgegnerischen Vereine, aus Kirchenvertretern, Ärzten, Lehrern, Vertretern der Gemeinden und der Krankenkassen zusammen. Bei regelmäßigen Sitzungen wurden gemeinsam Einzelfälle diskutiert und die Zusammenarbeit organisiert. Die wichtigste Aufgabe einer Trinkerfürsorgestelle bestand in der regelmäßigen Abhaltung von öffentlichen Sprechstunden.



In Halle war 1908 eine Auskunfts- und Fürsorgestelle für Alkoholkranke von der Evangelischen Stadtmission und der Armendirektion des Magistrats gegründet worden. Man richtete eine Zentralkartei ein, in der jeder bekannte Alkoholkranke vermerkt wurde. So konnten Fürsorgeämter, Gesundheitsamt, Krankenkassen, Kliniken, Polizei, Vormundschafts- und Entmündigungsrichter, wenn sie einen „Trinkerfall“ dieser Fürsorgestelle meldeten, in Erfahrung bringen, ob es sich um eine bereits bekannte Person handelte. Über jeden „Trinker“ wurde eine Akte geführt, zu der ein Fragebogen gehörte, der fast überall in Deutschland zur Anwendung kam. Die Aktenführung übernahm in Halle höchstpersönlich der Leiter der Fürsorgestelle, der dann auch das erste Beratungsgespräch mit dem Betroffenen und seinen Angehörigen führte.

Der Hauptfragebogen erfasste Namen, Geburtsdatum, Adresse, Konfession, Familienstand, den schulischen Werdegang, den erlernten, sowie den ausgeübten Beruf, den Wochenverdienst bzw. bei Arbeitslosigkeit die Art öffentlicher Unterstützung, die mit dem Kranken zusammenlebenden Angehörigen und den Versicherungsstand. Hatte man wirtschaftliche und bürokratische Angelegenheiten geregelt, wurde der „Trunksüchtige“ in die Hände ortsansässiger alkoholgegnerischer Vereine gegeben, die die weitere Betreuung übernahmen und der Fürsorgestelle Bericht erstatteten. Ein Übereinkommen mit der Polizeiverwaltung ermöglichte die Weitergabe von Namen Betroffener an die Armendirektion, die diese wiederum der Fürsorgestelle und den alkoholgegnerischen Vereinen meldete.



Im April 1913 übernahm die Stadtmission im Auftrag der Stadtgemeinde die Verwaltung der Fürsorgestelle. Die Stadtmission, welche sich seit ihrer Gründung im Jahr 1888 durch vielfältige karitative Tätigkeiten um mittellose Menschen kümmerte, vereinigte ihre Geschäftsstelle mit der Auskunfts- und Fürsorgestelle für Alkoholkranke. Der städtische Magistrat bezuschusste die Fürsorgestelle neben der Bereitstellung von Räumlichkeiten mit jährlich 1.500 bis 2.000 M. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden die meisten Bereiche der traditionellen Armenfürsorge noch ehrenamtlich durchgeführt. Den Fürsorgerinnen der Saalestadt wurden während der monatlich tagenden Besuchskommission „Trinker“ zugeteilt, denen sie Hausbesuche abstatteten, um sie zum abstinenten Leben zu bekehren oder um Betroffenen und deren Familien im alltäglichen Leben Hilfe, z. B. auch bei der Arbeitssuche, anzubieten.

Durch Prävention und Fürsorgemaßnahmen versuchte Halle bereits vor 100 Jahre dem Alkoholproblem entgegenzuwirken. Die Maßnahmen und Aktivitäten der halleschen Auskunfts- und Fürsorgestelle für Alkoholkranke waren sehr umfangreich – hier konnten sie nur stark verkürzt wiedergegeben werden.

(Anke Kaline, Kulturfalter Juli 2009)