„Die Menschen sollen sich wie Brüder lieben!“ – Zum 300. Geburtstag von Johann Wilhelm Ludwig Gleim
Mit einem schlichten Schubladendenken ist diesem Menschen nicht beizukommen, dem begüterten Halberstädter Domsekretär, dem Dichter, Übersetzer, Briefeschreiber, Sammler und Förderer junger Autoren, der die Geselligkeit liebte, die Welt umarmen wollte, sich aber letztlich bescheiden musste mit einem Platz in seinem fiktiven „Hüttchen“ („Ich hab’ ein kleines Hüttchen nur“). Er schrieb Gedichte im anakreontischen Gestus, in denen die Liebe, der Wein und der Gesang gefeiert wurden, blieb jedoch zeit seines Lebens unbeweibt, er feierte in den „Preussischen Kriegsliedern“ die Schlachten Friedrichs II. („Krieg ist mein Lied! Weil alle Welt Krieg will, so sey es Krieg!“), hatte sich zuvor jedoch als Stabssekretär zweier preußischer Generäle mit den Greueln der Kriege um Schlesien bekannt geworden schnell von solcherlei Diensten verabschiedet. Seine 1772 publizierten und noch von Lessing hoch gelobten „Lieder für das Volk“ sind nie im eigentlichen Sinne Volkslieder geworden.
Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der Sohn eines Steuereinnehmers, wurde am 2. April 1719 als achtes von zwölf Geschwistern geboren. Der begabte Ermslebener erhielt in der Oberpfarrschule in Wernigerode die nötigen Voraussetzungen für ein Hochschulstudium, das er an der halleschen Friedrichsuniversität ab 1738 unter dürftigen wirtschaftlichen Bedingungen absolvierte. Neben dem Studium der Rechtswissenschaften bewegten Gleim literarische Interessen. Vorzugsweise waren es die Vorlesungen Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers, die ästhetische Fragestellungen in den Mittelpunkt ihrer Lehrveranstaltungen stellten, die der Student, neben den juristischen Lehr-Angeboten, mit großem Interesse besuchte. Die Ästhetiker regten ihn an, zusammen mit seinen Kommilitonen Johann Peter Uz, Johann Nikolaus Götz und Paul Jacob Rudnick einen Dichter- und Freundschaftsbund, auch Zweite Hallesche Dichterschule genannt, zu gründen.
Während die beiden vom Pietismus beeinfl ussten Vertreter der Ersten Dichterschule, Immanuel Jakob Pyra und Samuel Gotthold Lange, sich in ihren Gedichten vornehmlich religiösen Fragestellungen widmeten, favorisierten Gleim und seine Freunde eher scherzhafte Stoffe im Stile der in nachklassischer Zeit publizierten Anakreonteen. Gleim selbst wurde nach der Veröff entlichung seines „Versuchs in Scherzhaften Liedern“ (1744) als ,deutscher Anakreon‘ gefeiert. Er löste mit seinem „Versuch“ gleichsam eine Lyrik-Welle aus, die weite Teile des deutschen Sprachraums erfasste. „Ich wundere mich,“ schrieb Gleim in einem Brief vom 6. März 1746 an Uz, „daß man [an] dieser Art so viel Geschmack gefunden hat. Jedermann will jetzo anakreontisiren, dadurch wird der Vorzug der Neuheit bald wegfallen.“ Das war in der Tat so, die Welle verflachte zusehends, aber immerhin: Noch die jungen Lessing, Goethe oder Schiller begannen ihre Dichterlaufbahn mit scherzhaften Gedichten.
Im August 1740 verließ Gleim Halle, arbeitete in unterschiedlichen beruflichen Stellungen und fand schließlich eine sehr gut honorierte Lebensstellung als Sekretär des Domstifts in Halberstadt. Daneben ruhte seine Feder nicht, in verschiedenen literarischen Genres erprobte er sich, erzielte dabei allerdings nicht mehr jene Erfolge wie in jungen Jahren. Dennoch arbeitete er unverdrossen bis an sein Lebensende am Projekt einer deutschen Literaturgesellschaft. Von Halberstadt aus betrieb er ein weitverzweigtes Korrespondenznetz, in das über 500 Briefpartner einbezogen waren, und förderte damit die deutsche Briefkultur beträchtlich. Für ihn selbst bedeutete der Briefverkehr eine nicht zu unterschätzende Teilhabe am intellektuellen Leben seiner Zeit. „Ohne die Briefe meiner Freunde wäre ich längst ein Misantrop“, schrieb er Anfang 1750 an den Freund Uz, „so wenig ich sonst dazu geneigt bin. Sie ersetzen den Mangel des Umgangs mit ihnen, und sie machen das Schicksahl, mit so viel Dummen, so viel Narren, und so viel Boshaften, in der Welt zu thun zu haben, erträglich.“
Sein Freundschaftstempel mit nahezu 150 Porträts bedeutender Zeitgenossen, seine Bibliothek mit über 11000 Bänden sowie seine Handschriftensammlung stellen bis heute wesentliche Quellen für Forschungen zum 18. Jahrhundert dar. Unermüdlich bemühte er sich um die Förderung von jungen deutschen Autoren. Gottfried August Bürger, Wilhelm Heinse, Johann Georg Jacobi, Jean Paul, Anna Louisa Karsch und Johann Gottfried Seume wären hier zu nennen.
Nach der Jahrhundertwende erblindete der Dichter. Sein Leben und das nahende Ende beschrieb er in dem Gedicht „Der Greis“: Da ist von „Scherz und Rebensaft“ die Rede, die nicht mehr erquickend wirken, aber auch von der Zuversicht: „Ein harmonischer Gesang / War mein Lebenslauf!“ Am 18. Februar 1803 verstarb Gleim in Halberstadt. In Halle erinnert eine Straße im Stadtteil Frohe Zukunft an den einstigen Studenten. Besucher Halberstadts sollten es auf jeden Fall nicht versäumen, das am Domplatz situierte ehemalige Wohnhaus des Dichters in Augenschein zu nehmen, in dem mit dem Museum der Aufklärung eines der ältesten deutschen Literaturmuseen eingerichtet wurde.
(Autor/in: Hans-Joachim Kertscher)