Schwanengewand und Pomeranzengräber. Sarah Kirsch in Halle
Auf dem Halleschen Stadtgottesacker befindet sich unter den vielen steinernen Zeugnissen vergangener Zeiten ein besonders geheimnisvolles Exemplar. Keine Namen Verstorbener zieren das verwitterte Monument, das sich standhaft über sich selbst auszuschweigen scheint. Aus seiner Mitte wächst nur ein Baum hervor, dessen Früchte sich bei näherem Hinsehen als Pomeranzen entpuppen. Zu den faszinierten Betrachterinnen und Betrachtern, denen das „wundersame Grab“ Rätsel aufgab und zugleich Zuflucht vor dem Alltag gewährte, gehörte vor über einem halben Jahrhundert die Dichterin Sarah Kirsch (1935–2013). In der 1991 publizierten Erzählung „Pfeffer und Salz“ hat sie rückblickend beschrieben, wie sie hier einen schattigen Lese- und Arbeitsplatz fand, wenn ihr wieder einmal die „schöne Stuckdecke“ ihrer nahe am Botanischen Garten gelegenen
Wohnung auf den Kopf fiel.
1935 als Ingrid Bernstein in Limlingerode geboren und in Halberstadt aufgewachsen, wo sie die Luftangriffe auf die Stadt miterlebte, verbrachte die junge Sarah Kirsch ihre Studienzeit in Halle. Den Vornamen „Sarah“ wählte sie aus Protest gegen die Massenvernichtung der Juden im Dritten Reich. Unter anderem in einer 1993 anlässlich der Verleihung des Peter-Huchel-Preises verfassten „Dichterischen Selbstauskunft“ hat Kirsch die an „der alten Salzstraße“ gelegene Saalestadt als zentrale Station beim Übergang in ihr dichterisches Leben skizziert. Zur Zuneigung zum Studienfach Biologie gesellte sich demnach schnell die Begeisterung für die Literatur. In einem von Gerhard Wolf geleiteten Literaturzirkel lernte Kirsch andere junge Menschen kennen, die wie sie Gedichte schrieben und für Klopstock, Ewald (nicht Heinrich!) von Kleist und Rilke schwärmten. Unter ihnen war Rainer Kirsch – in Erzählungen zuweilen „Prins Herzlos“ genannt –, den sie bald darauf heiratete und mit dem sie 1965 den preisgekrönten Gedichtband „Gespräch mit dem Saurier“ publizierte. Durch erfolgreiche Lyrikbände wie „Zaubersprüche“, „Landaufenthalt“, „Erdreich“, „Erlkönigs Tochter“, die reportageartige Interviewsammlung „Die Pantherfrau“ oder die Erzählung „Allerleirauh“ gehörte Kirsch, die 1976 als Erste die Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterzeichnete und mit ihrem Sohn Moritz die DDR ein.
Ein Jahr später verließ, bald zu den meistgelesenen Autorinnen in Ost und West. Marcel Reich-Ranicki nannte sie einmal „Der Droste jüngere Schwester“. Obgleich Kirsch nach Stationen in Westberlin, Rom und Niedersachsen seit 1983 im windumtosten Tielenhemmein Schleswig-Holstein lebte, hat sie die frühen Jahre in Halle nie vergessen. In weiteren in dem Band „Schwingrasen“ publizierten Prosastücken, die Titel wie „Trost“, „Waldhorn“,„Versteinerte Wälder“ oder „Katzenpfote“ tragen, ist diese Zeit ebenfalls Thema. Hier avancieren verschiedene hallesche Orte und Landschafte zu einer geradezu mythisch aufgeladenen, von Märchenmotiven und fantastischen Sequenzen durchzogenen dichterischen Topographie. Die Ammoniten im Garten des Museums für Vorgeschichte,die „hohen Sandsteinfelsen“ und „tief eingegrabenen Pfade“ der Klausberge, Reichardts „dunkler“ Garten, der vom Klang seiner auf dem Waldhorn spielenden Töchter erfüllt ist, die „vergiftete Saale“ und die Rabeninsel, auf der sich die Ich-Erzählerin, die in einer Truhe ein „Schwanengewand“ versteckt hält, zuweilen wie ein Vogel „schnatternd“ niederlässt, sind durchdrungen vom typischen „Sarah-Sound“, den Peter Hacks der Dichterin attestiert hat und der bis heute Leserinnen und Leser in seinen Bann zieht.
Kirschs Werk besticht dabei sowohl durch fortwährende Brisanz als auch verblühende Aktualität. Ihre seismographische, präzise, klare und zugleich dichterisch anverwandelte Wahrnehmung der Natur, ihre Warnungen vor Umwelt- und Naturkatastrophen, ihre Angst vor der Aggressivität und zerstörerischen Kraft des Menschen künden von einer zärtlichen und unerschütterlichen Liebe zu diesem „bekloppten Planeten“ (in einem Brief an Christa Wolf), den sie in und mit ihrem Werk zu behüten und zu schützen suchte. In einem Gespräch mit Iris Radisch und Marion Poschmann hat Sarah Kirsch einmal formuliert, dass sie eigentlich nie etwas anders wollte als „Leben wie ein Gedicht“. Mit Blick auf ihre sprachlich faszinierenden und betörend schönen Texte, von denen einige motivisch in Halle verwurzelt sind, ist ihr das zweifelsohne gelungen