Die Schriftstellerin Anselma Heine (1855–1930) – „höhere Tochter“ im Halle der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts

Die 1855 in Bonn geborene Schriftstellerin Anselma Heine kam im Alter von 1½ Jahren nach Halle, nachdem ihr Vater, der Mathematiker Heinrich Eduard Heine (1821– 1888), einem Ruf als Professor für Mathematik an die Universität in Halle gefolgt war. Das Mädchen, jüngstes von fünf Geschwistern, war früh – wie schon ihre Mutter, die jedoch im Halle der 1860er- Jahre nur schwer heimisch werden konnte – literarisch interessiert. Anselma Heine selbst entschied sich gegen Ehe und Familie und wählte den Beruf der Schriftstellerin. Frühe Werke waren Gelegenheitsschriften, dann erschienen erste Einsendungen in Zeitschriften, wobei sie zunächst unter dem männlichen Pseudonym „Feodor Helm“, später auch als „Anselm Heine“ publizierte. Nach dem Tod der Mutter 1894 verließ Heine die Saalestadt. Es zog sie nach Berlin, wo Teile ihrer Familie lebten. Hier wurde sie Teil der literarischen „Szene“ und veröff entlichte zahlreiche Erzählungen in Zeitschriften und Anthologien sowie Romane, etwa „Mütter“ (1905), „Maeterlinck“ (1905) oder „Aus Suomi-Land“ (1905, d.i. Finnland) und die Novelle „Die Erscheinung“ (1912). Ihre Texte und Bücher widmete sie vorrangig weiblichen Themen, wobei ihr „Verständnis für die Frauenseele“ in Rezensionen hervorgehoben wurde. Bereits in ihrer Jugend nutzte Heine ihr familiäres Netzwerk und reiste, unter anderem ins Elsass, später bis nach Finnland und auf den Balkan, wobei ie Eindrücke gewann, die Niederschlag in ihren Werken fanden.



1926, wenige Jahre vor ihrem Tod, erschienen in der Deutschen Verlags-Anstalt Anselma Heines unter dem Titel „Mein Rundgang“ stehende Lebenserinnerungen. Hier blickte sie auch auf ihre Kindheit und Jugendjahrein Halle zurück, die sie aus dem Blickwinkel einer „höheren Tochter“ erlebte: Sie erhielt Hausunterricht und erlebte die Stadt vomFenster aus oder in Spaziergängen mit ihren Eltern oder der Gouvernante,die sie auch zum Giebichenstein oder zur Bergschenke führten. In derRückschau bedauerte Anselma Heine, dass es ihr – wie so vielen anderen Mädchen – dabei „an nichts mangelt(e) außer an, „Erfahrungen“. Nach gut zehnJahren bezog die Familie ein eigenes, 1864-65 errichtetes Haus in der Luisenstraße – in exponierter Lage und Aussicht, gegenüber dem ebenfalls in diesen Jahren entstehenden Stadtgymnasium (der heutigen Integrierten Gesamtschule). Bald heiraten die älteren Schwestern des Mädchens.

Während ihre Eltern Anselma Heine zufolge einen Haushalt von „erlesener Schlichtheit“ führen und verschiedenste Besucher und Freunde willkommen hießen, nahm sie die Gepfl ogenheiten der hallischen Professorenschaft als schlicht, statisch, wenn nicht sogar als trist wahr.



Die „guten Sitten“ der Zeit waren – zumindest ihrer Empfi ndung nach – Fleiß, Sparsamkeit, Bescheidenheit und „Anstand“. Geselligkeit, wie sie in Halle vor der Revolution von 1848, etwa im Hause von August Hermann Niemeyer, gepfl egt wurde, sei hingegen nicht üblich gewesen.

Über Halle schrieb Anselma Heine in der Rückschau: „In der Tat war das Halle der fünfziger Jahre kein froher Aufenthalt. Die Menschen, nach langen unruhigen Zeiten endlich wieder zu Frieden gelangt, waren entweder völlig auf das Materielle gerichtet oder zu Furchtsamen geworden, die jedes Vergnügen, jeden Glücksanspruch wie eine strafwürdige Unbescheidenheit mißbilligten. Eine ans Dürftige streifende Genügsamkeit fi el jedem Zuziehenden auf.“ (S. 11). Höhepunkte ihres Mädchenlebens gab es jedoch auch: dies waren das Schlittschuhfahren auf der zugefrorenen Saale, im Sommer Gastereien in den am Fluss liegenden Dörfern und schließlich Geselligkeiten in Bad Lauchstädt, für die extra bestellte Friseure die „gehobenen Töchter“ herrichteten.



Die Situation änderte sich in ihrer Wahrnehmung grundlegend nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, dessen Ende sie als 16-jährige Zeugin des Berliner Fest- oder in ihren Worten „Siegeseinzugs“ im Juni 1871 unmittelbar miterlebte. Der Erwerb und Besitz von Geld, das „Unternehmertum“, besaß nun auch in Halle einen hohen Stellenwert, der die von Anselma Heine in ihrer gesellschaftlichen Auswirkung kritisch beobachtete, akademische Dominanz zurückdrängte. In Halle, das dank der Braunkohle und des Maschinenbaus wuchs und sich zur Groß- und Industriestadt wandelte, wurde es „laut“. Die Autorin Anselma Heine, die 1930 in Berlin verstarb, zählt zu einer Gruppe von heute kaum noch bekannten, doch zu ihrer Zeit weithin gelesenen weiblichen Schriftstellern. Aus ihrem autobiographischen „Rundgang“ geht hervor, dass sie einen weiten geographischen, doch ebenso zeitlichen Horizont überblickte und Auskunft von der deutschen Kleinstaaterei, dem Kaiserreich, der Zeit des Ersten Weltkriegs bis hin zur Weimarer Republik geben konnte. Das Leitmotiv der literarischen Werke dieser behüteten Professorentochter, die sich zur Schriftstellerin formte, waren die von ihr selbst gelebten Facetten und Möglichkeiten der selbstständigen Frau in ihrer Zeit.

(Autorin: Andrea Thiele)