Halle um 1900: Kaufhausbauten von Albert und Ernst Giese

Die Brüder Albert und Ernst Giese besaßen mit ihrem „Atelier für Architektur und Kunstgewerbe/Bauausführung“, das von 1883 bis 1922 in Halle existierte, maßgeblichen Anteil an der gründerzeitlichen Neugestaltung der Stadt um 1900. Ihre Auftraggeber für zahlreiche Wohn- und Geschäftshäuser und Villen stammten aus dem wohlsituierten Bürgertum, zu ihrer Klientel gehörte aber auch die hallesche SPD, für die das Büro Giese 1906-07 Entwürfe für das Versammlungshaus „Volkspark“ lieferte. Die meisten vor 1900 entstandenen Bauten des Architekturbüros sind in der Formensprache des Historismus gestaltet. Nach 1900 entstanden auch Gebäude mit Elementen des Jugendstil.

Zu den modernsten Bauten des Büros in Halle gehören die Kaufhäuser, die architektonisch zwischen Repräsentation und Funktionalität angesiedelt sind: Mit der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem wirtschaftlichen Aufschwung stieg das Einkommen breiter Bevölkerungsschichten und damit der Bedarf an Waren, der durch industrielle Produktion gestillt werden konnte. Durch das größere Warenangebot bekam das Einkaufen einen anderen Stellenwert. Auch die Architektur reagierte auf die neuen Anforderungen der Konsumgesellschaft – große Schaufenster waren nun gefragt.



Mit dem Wandel vom Einzelwaren- zum Sortimentswarenhandel entstanden ab ca. 1890 die ersten Kaufhäuser in Halle. Diese waren zunächst in den beiden unteren Etagen von Wohn- und Geschäftshäusern untergebracht, welche dank der technischen Errungenschaften des Eisen- und Stahlskelettbaus im Inneren als große Hallen mit Eisenstützen, ohne tragende Wände, gestaltet werden konnten. Die Fassaden dieser Geschosse bestanden aus großen Schaufenstern, die in Eisenrahmen eingespannt waren. Die in massivem Mauerwerk aufgeführten, repräsentativ mit historistischem Fassadenschmuck versehenen oberen Wohnetagen lasteten allerdings schwer auf den filigranen unteren Geschossen, was zeitgenössische Architekturkritiker als „Architektur auf Stelzen“ und „Glasflächenseuche“ beklagten. Das Wohn- und Geschäftshaus Loewendahl (1891-93, Große Ulrichstraße 49, Vorgängerbau des Kaufhauses Assmann von Gustav Wolff) (Abb. 1. 1. im Hintergrund) der Gebrüder Giese macht dieses Problem der Proportionierung anschaulich.

Da die Verkaufsetagen bei gut laufenden Geschäften oft zu wenig Platz boten, wurden in der Folgezeit Kaufhäuser gebaut, die in allen Etagen zu Geschäftszwecken dienten. Ein Beispiel nach Entwürfen der Brüder Giese ist das Kaufhaus Bär/Sernau (1900-01, Große Ulrichstraße 54, heute Fotohaus Grosswendt) (Abb. 1. 1.). Die leicht und durchscheinend wirkende Fassade war ursprünglich vollständig in Eisen und Glas aufgelöst und wurde durch vertikale Eisenpfeiler sowie schmiedeeiserne Brüstungsgitter und Korbbögen gegliedert. Die großen Schaufenster dienten zur Präsentation der Waren, waren jedoch neben kleinen Fenstern zum Hof auch die einzigen Lichtquellen für die sich weit nach hinten erstreckenden Verkaufs- und Lagerräume.

Hierauf reagierte die weitere Entwicklung der Kaufhausarchitektur ab 1900 mit Lichthöfen: Lichthofarchitekturen der Gebrüder Giese in Halle haben sich in den ehemaligen Kaufhäusern Brummer & Benjamin (1901-02, Große Ulrichstraße 22/23, das spätere Intecta-Kaufhaus) und Weiss (1906-08, Leipziger Straße 105/106, heute New Yorker) erhalten. Die Außenarchitektur ging wieder einen Schritt zurück zu mehr Wandhaltigkeit (Abb. 1. 2.): Gemauerte Brüstungen und vertikale, mehrere Geschosse übergreifende Sandsteinpfeiler gaben der Fassade Stabilität, die Dachaufbauten akzentuierten die beiden in Ecklage befindlichen Gebäude und kamen dem Bedürfnis der Auftraggeber nach Repräsentation entgegen. An den Eisen-Glas-Fassaden mussten oft wenige Jahre nach ihrer Entstehung die freiliegenden Eisenteile aus feuer- und sicherheitstechnischen Gründen umbaut werden, was die architektonische Weiterentwicklung zur repräsentativen Wandhaltigkeit noch unterstützte.

Mit dem Kaufhaus Brummer & Benjamin schufen die Brüder Giese ihre erste Lichthofarchitektur in Halle (Abb. 2. 1.). Charakteristisch ist der offene Eindruck des Innenraums, der an französische Lichthöfe erinnert: Die filigranen schmiedeeisernen Galeriebrüstungen öffnen sich weit zum Lichthof, der nicht als abgeschlossener Raum aufgefasst wird, sondern eine Einheit mit den Galerien bildet. Der Vertikalzug der schlanken Eisensäulen, welche ohne Unterbrechung vom Fußboden bis ins Dach aufsteigen und die Deckenträger der drei Verkaufsgeschosse tragen, leiten den Blick nach oben zu der Glastonne, die den Lichthof ursprünglich überdeckte. Neben seiner baukünstlerischen Funktion übernimmt der Lichthof weitgehend die Funktion des Lichtspenders für die Verkaufsgeschosse. Repräsentative Funktion hat vor allem die aufwändig gestaltete Treppenanlage an der westlichen Schmalseite des Lichthofes, die sich dem eintretenden Besucher auf den ersten Blick präsentiert.



Der wenig später entstandene Lichthof des Kaufhauses Weiss am Markt (Leipziger Straße 105/106) (Abb. 2. 2.) wirkt monumentaler und wurde durch die kurz zuvor entstandenen Lichthöfe des Berliner Warenhauses Wertheim beeinflusst. Kräftige Stahlbetonpfeiler steigen bis ins Dach auf und geben dem Raum einen starken vertikalen Akzent. Die Pfeilerreliefs in Form von Roll- und Beschlagwerk verleihen den massiven Pfeilern zusätzliche Plastizität. Der Lichthof gewinnt auf diese Weise einen stärker eigenständigen Raumcharakter, doch steht er durch die relativ weit auseinander gerückten Pfeiler noch immer mit den umlaufenden Galerien in Verbindung und kann als Lichtspender fungieren. Die eisernen Galeriebrüstungen verleihen dem Raum ein horizontales Gegengewicht.

Das Kaufhaus am Markt wurde vor kurzem von seinem neuen Besitzer saniert. Ist auch die, bereits in den 1960er Jahren durch eine Aluminium-Vorhangfassade ersetzte, ursprüngliche Fassadengliederung verloren und wird in der neuen Glasfassade allein die letzte Gliederung zitiert, so sind doch die historische Treppenanlage und der Lichthof erhalten, so dass ein Stück wertvoller Kaufhausarchitektur Halles überdauert hat. Der schlechte Zustand des einstigen Kaufhauses Brummer & Benjamin (Intecta-Kaufhaus) in der Großen Ulrichstraße ließ solche Hoffnungen lange kaum zu. Durch den Verkauf an ein hallisches Designunternehmen im Januar 2009 aber werden sie neu geweckt: Es soll ein Design-Kaufhaus werden und somit eine Nutzung erhalten, die der Intention seiner Erbauer, den Gebrüdern Albert und Ernst Giese, sehr entgegenkommen dürfte.

(Mirjam Frank, Kulturfalter April 2009)