Aufbrüche einer neuen Generation – Jugend und Ausdruckstanz in Halle (1890–1933)

Jugend – gerade den Generationen der um 1900 geborenen Kinder wird als Pubertierenden erstmals das Label eines neuen Lebensabschnitts zwischen Kindheit und Erwachsenenalter zugesprochen. Es waren Generationen, die zwischen Industrialisierung, Militarisierung, Erstem Weltkrieg und den Anfängen der Weimarer Republik groß wurden und die sich oft in sogenannten Jugendbewegungen zusammenfanden, um ganz neue Projekte der „Moderne“ ins Werk zu setzen. Das neue Label der Jugend wurde diesen Generationen vor allem deshalb zugeschrieben, weil sie sich für ein „neues“ Menschenbild und eine Modernisierung der Gesellschaft einsetzten, die sich eher mit Geselligkeitsformen und Freizeitbetätigungen junger Menschen verbanden. Neben den vielen politischen und religiösen Verbünden entstanden zunehmend auch jugendliche Kultur- und Sportvereine wie etwa die Wandervogelbewegung, in denen sich Jugendliche selbstbestimmt betätigen wollten. Aber auch unterhalb solcher Organisationsformen entstanden viele Vergemeinschaftungsformen der Moderne. Ein lebendiges Beispiel dafür gibt die Gymnastikbewegung dieser Zeit ab.

Während viele Vereine oder Bewegungen zunächst fast selbstverständlich von und für die männliche Jugend bestanden, forderten zunehmend auch Frauen das Recht zu Beteiligung an Vereinen bzw. entwickelten selbst Aktivitäten zur Entfaltung dezidiert weiblicher Gestaltungsräume. So etwa Bess Mensendieck (1864–1957), die zur Verbesserung von Gesundheit und Haltung ein spezifisch auf die Frauen ausgerichtetes Gymnastiksystem entwickelte. Diese Formen der Bewegung wurden nach Veröffentlichung ihrer ersten Schriften 1906 so populär, dass das „mensendiecken“ bald zum allseits bekannten Verb für das Gymnastiktreiben wurde und bis heute im Duden zu finden ist. Sehr schnell begannen jedoch einige Verfechter von Emanzipation und Individualität die starren Bewegungsformen von genormten Schulen zu durchbrechen. So etwa mit dem entstehenden Ausdruckstanz.



Nicht die strikte Choreografie eines vorgegebenen Bewegungsprogramms, sondern der Ausdruck der eigenen Emotionen, Individualität, Natürlichkeit und Körperlichkeit sollten den Tanz bestimmen. 1911 wurde in Dresden-Hellerau die erste Schule für Ausdruckstanz gegründet, zu deren frühen Schülerinnen auch Hedwig Nottebohm (1886–1968) aus Halle gehörte. Als die Dresdner Schule mit Beginn des Ersten Weltkrieges schließen musste, kam Hedwig Nottebohm nach Halle zurück und gründete hier zunächst in der Wohnung ihrer Eltern in der Lafontainestraße 1915 eine eigene Bewegungsschule. Sie selbst sprach davon, zu dieser Zeit die einzige Bewegungsschule in Deutschland unterhalten zu haben. Tatsächlich eröffnete Mary Wigman ihre heute berühmte Schule erst 1920 in Dresden und Rudolf Laban die in Hamburg 1922.

Vor allem von Seiten der hallischen Frauenbewegung um Agnes Gosche (1857–1828) und damit durch die städtische Frauenschule und das städtische Lyzeum erhielt Nottebohm Unterstützung. Dort bekam sie einen Lehrauftrag für das Kindergarten-Seminar und für sämtliche Oberklassen des Lyzeums sowie der Studienanstalt. Mit den Schülerinnen wuchs die Schule schnell zu einem durchaus erfolgreichen Unternehmen. Vier Jahre nach der Gründung wurde die Schule nicht nur staatlicherseits zugelassen und auch eine seminaristische Ausbildung von Rhythmiklehrerinnen akzeptiert. Vielmehr fanden gleichzeitig auch die ersten Auftritte von Hedwig Nottebohm und ihrer Schülerinnen in ganz Deutschland statt. Auch im Hallischen Stadttheater gab es Auftritte, so etwa 1921 im Stück „Das Wandbild“ sowie später in Beethovens „Prometheus“ (1922), Orpheus und Eurydike (1924), im „Sturm“ von Shakespeare (1925) und in Julius Caesar (1929). Ihr gelinge es die „Jugend begeistern zu können, sie so entflammen zu lassen, daß sie Träger einer Idee werden können“.



„Nirgends Schema oder gar nur Schema und Drill, sondern überall die aus eigenem Empfinden geborene Bewegung oder Geste“, urteilte ein Rezensent in den Hallischen Nachrichten. Ähnlich begeistert zeigten sich auch Schulkinder der Franckeschen Stiftungen, die in ihren Lebensläufen zur Reifeprüfung über ihre Teilnahme an den Kursen von Hedwig Nottebohm berichteten. Erst eine Durchsicht dieser bewegenden Quellen zur Vorbereitung der Jahresausstellung 2019 „Jungsein in den Franckeschen Stiftungen, 1890–1933“ brachte Hinweise auf diese Bewegungsschule, die in der hallischen Stadtgeschichte heute völlig vergessen ist. Hedwig Nottebohm verfolgte nicht den Aufbau oder die Entwicklung eines Systems oder die Anwendung einer bestimmten Methode, wie dies Mensendieck vorgemacht hatte, sondern ihr ging es vor allem um die Arbeit an sich selbst, die Auseinandersetzung zwischen Schülerin und Lehrerin im Spannungsfeld zwischen Improvisation und „Erziehung“.

Damit hatte sie offenbar Erfolg, denn es entstanden in Halle nicht nur zahlreiche weitere Bewegungs- und Gymnastikschulen, sondern Nottebohms Schule wurde offenbar die größte in ganz Deutschland. Mit diesem Engagement konnte sie sich auch über die schwierigen Jahre der Weltwirtschaftskrise retten. Dann allerdings wurde sie aufgrund ihrer politischen Ablehnung des Nationalsozialismus nach 1933 zunehmend drangsaliert. Immer häufiger weilte sie in Schweden, wohin sie 1937 schließlich ganz übersiedelte. Damit endete nicht nur ein äußerst erfolgreiches Projekt der Moderne. Auch die Erinnerung an die Schule und Hedwig Nottebohm wurde in Halle restlos getilgt. Hundert Jahre später sollte im Rahmen der Neuerzählung der „Modernen“ auch an dieses Kapitel der internationalen Kulturgeschichte und der lokalen Stadtgeschichte wieder erinnert werden.

(Autor/in: Katrin Möller)