Das Haftschicksal von Horst Hennig – Medizinstudent in Halle (Saale)
Die öff entlichen Räume vor allem größerer Städte überdeckt in jüngster Vergangenheit vielfach ein regelrechter Teppich nicht offizieller, informeller Zeichen.
In zufälliger und bezugloser Nachbarschaft oder in direkter Konkurrenz und expliziter Berufung ergibt sich dabei nicht selten ein Palimpsest, bei dem eine Schicht der Überschreibung der nächsten folgt. Das Spektrum derartiger Zeichensetzungen ist breit. Es reicht etwa von kleinen subversiven Umdeutungen offizieller Zeichen oder teils materialaufwändiger Street Art über Graffiti bis hin zu Aufklebern, großfl ächigen Farbcodierungen oder simplen Tags. Großen Anteil an dieser Markierung des Stadtraums haben auch die verschiedenen medialen Hervorbringungen sportlicher Fanszenen, vor allem im Feld des Fußballs.
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Flaneuren wie eiligen Passanten wird in Halle zum Beispiel schon die großzügige Verwendung von rot-weißem Klebeband mit der Aufschrift „Chemical Zone“ aufgefallen sein, die in Anspielung auf den historischen Namen des Halleschen FC bestimmte Gegenden, Orte und Treff punkte symbolisch besetzen soll im Sinne eines kollektiven „Hier sind wir!“ bzw. „Das ist unser Gebiet!“. Überhaupt dient derlei Praxis der Festlegung, Inbesitznahme und Behauptung eigenlogischer nichtoffi zieller Räume. Daraus kann bei entsprechender Häufi gkeit und Verdichtung eine regelrechte alternative Topographie entstehen, in der sich Schwerpunkte und Verknüpfungen ausmachen lassen. Diese liegen einsehbarerweise im Umfeld des jeweiligen Stadions oder entlang dessen Zufahrtswegen, aber etwa auch in der Nähe von Fankneipen, Berufsschulen oder anderen von Fangruppen vielfrequentierten Orten.
Anfang 1950 fiel das Verhalten Hennigs und weiterer Kommilitonen den Spitzeln des Geheimdienstes an der Universität auf (seit Februar 1950 MfS: Ministerium für Staatssicherheit der DDR). Es galt, die Studentenräte zu wählen und die Vorlage sogenannter Einheitslisten, worauf ca. 20 Namen registriert waren, entsprach ganz und gar nicht dem Selbstverständnis Hennigs über das Selbstverwaltungsprinzip an den Universitäten.
Nicht Listen, sondern Personen wollte der Medizinstudent wählen. Gemeinsam mit anderen Studenten protestierte er im Februar 1950 gegen diese Wahlform, die nicht seinem Demokratieverständnis entsprach. Flugblätter wurden verteilt und der ostzonale Weg in die Diktatur kritisch hinterfragt. Durch dieses Verhalten sahen die Spitzel den Sowjetisierungsprozess auf dem Gebiet der inzwischen gebildeten DDR gefährdet – ein Protestverhalten, das die Studenten aus der Sicht der Machthaber kurzerhand zu Staatsfeinden und Faschisten werden ließ.
Die Verhaftung von Horst Hennig im März 1950 erfolgte in den Abendstunden. Es war bekannt, dass der Student durch die Übernahme von Nachtwachen an Frischoperierten in der Chirurgie der Universitätsklinik sich ein paar Mark dazu verdiente. Gegen 22 Uhr klingelte es und Hennig erwartete das Startsignal für eine Nachtwache. Vor ihm standen jedoch – nach einem deutschen Lockvogel, der um Einlass in Hennigs Quartier bat – zwei Russen mit Maschinenpistolen.
Der Student Hennig war verhaftet, er verschwand in einem PKW, lautlos und ohne Aufsehen. Sowohl für die Angehörigen als auch für die Professoren der Medizinischen Fakultät der Universität Halle blieb der Medizinstudent spurlos verschwunden.
Im September 1950 klagte ihn ein sowjetisches Militärtribunal (SMT) in Halles ehemaligen NS-Zuchthaus „Roter Ochse“ an, eine illegale Organisation an der Martin-Luther-Universität in Halle gegründet zu haben mit dem Ziel, „antisowjetische und antidemokratische Agitation zu verbreiten sowie Personen herauszufinden, die mit den sowjetischen Besatzungstruppen zusammenarbeiten, zwecks Übergabe dieser Informationen an den Rundfunksender RIAS“ (Rundfunk im amerikanischen Sektor).
In anderen Dokumenten wird als Verurteilungsgrund Spionage angegeben, Urteil: 25 Jahre Haft, zu verbüßen in einem der berüchtigten sowjetischen Konzentrationslager, in Workuta am 67. Breitengrad nördlich des Polarkreises. Durch die Erschließung von Steinkohlevorkommen wuchs die Region um Workuta seit Jahrzehnten, zugleich wuchs aber auch die Zahl der dorthin deportierten Zwangsarbeiter und Häftlinge.
Nach Stalins Tod im Jahre 1953 vegetierten allein in den Arbeitslagern in der Region Workuta rund eine Viertelmillion Strafgefangene, deren Leben völlig entrechtet war und einem Kampf ums Überleben glich. Das Aufbegehren der Häftlinge im August 1953 – ein Arbeitsstreik mit der Forderung, die Urteile überprüfen zu lassen – wurde blutig niedergeschlagen. Horst Hennig war einer der streikenden Häftlinge, er überlebte den Workuta-Aufstand und die Lagerhaft, aus der er 1955 freikam und nach Deutschland zurückkehrte. In Köln setzte Hennig sein Medizinstudium fort, er promovierte und es begann eine Karriere im Sanitätsdienst der Bundeswehr, in Pension verabschiedet 1983 als Generalarzt im Bundesministerium der Verteidigung in Bonn. Nach dem Ende der Sowjetunion rehabilitierte ihn die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation.
Der einstige Medizinstudent aus Halle engagierte sich fortan für einen Gedenk- und Erinnerungsort in Halle, dem „Roten Ochsen“ und er wurde zum Initiator des größten Treffens ehemaliger politischer Häftlinge in Sachsen-Anhalt, dem Halle-Forum, das jährlich in der Gedenkstätte durchgeführt wird. Dr. Horst Hennig verstarb im Mai 2020 in Köln wenige Tage vor seinem 94. Geburtstag.
Literaturhinweise: Gerald Wiemers (Hg.): Erinnern als Verpflichtung. Generalarzt a.D. Dr. med. Horst Hennig zum 85. Geburtstag, Universitätsverlag Leipzig 2011; Ders.: Erinnern statt Verdrängen. Horst Hennig – Erlebtes in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Universitätsverlag Leipzig 2016.
(Autor/in: Dr. André Gursky)