Heiraten in Halle. Wie man im 19. Jahrhundert zueinander fand

"Komplimentierbücher“ gaben im 18./19. Jahrhundert für alle Wechselfälle des Lebens Verhaltensregeln heraus, darunter auch Etiketten für Heiratsanträge. Die Palette der Anforderungen an Aussehen, Verhalten, Komplimente und Höflichkeit der zukünftigen Ehepartner war nicht unerheblich. Dennoch kamen die Menschen zusammen. Doch wie fanden sich die Brautpaare und wer heiratete wen? Was waren die Umstände und wann platze eine Verlobung?

Genau dies möchte ein aktuelles Forschungsprojekt zu den Ehenetzwerken für das 19. Jahrhundert näher ergründen. In einem Citizen Science-Projekt arbeiten HistorikerInnen der Universität Halle mit einem Kreis von BürgerwissenschaftlerInnen und GenealogInnen zusammen, um die Vielzahl von Heiratseinträgen aus den Kirchenbüchern der Marktgemeinde/Marienkirche und der Gemeinde St. Georgen von 1820 bis 1900 zu erfassen. Dass diese Quellen einen hervorragenden Aufschluss über die hallische Gesellschaft geben, zeigte bereits ein Vorgängerprojekt am Historischen Datenzentrum Sachsen-Anhalt, in dem die Ehen der Marktgemeinde zwischen 1670 und 1820 erfasst wurden. Fast 10.000 Ehen wurden in dieser Zeit allein in der Kirche „Unserer Lieben Frauen“ geschlossen: Die Kirchenbücher der hallischen Kirchengemeinden erzählen ganz verschiedene Geschichten. Etwa die der 19jährigen Weinhändlertochter Susanna Philippina Rahn, die 1761 den 58jährigen Kriegsrat und Ratsmeister Christian Wilhelm Herold heirate. Anders als bei vielen Frauen, die Witwer ehelichten, galt dies nicht der Versorgung einer hinterbliebenen Kinderschar. Der Witwer Herold war kinderlos. Hier ging es tatsächlich um den sozialen Aufstieg. Als Herold bereits wenige Jahre später verstarb, konnte die junge Witwe dem aufstrebenden, etwa gleichaltrigen Magistratssyndikus Georg David Thebesius die angesehene Stellung übertragen, denn das Amt des Kriegsrats und Ratsmeisters ging nun an ihn über. Beide führten eine lange gemeinsame Ehe, bekamen zwei Söhne und starben kurz hintereinander 1804/05.



Auch das Los der Männer war in diesen Beziehungen nicht einfacher. Die aus Halle stammende Lore Pfei er-Wentzel erzählt in ihrer Biografie etwa von der zehnjährigen Verlobungszeit ihrer Eltern Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Bräutigam sollte die Rechtsanwaltspraxis des Schwiegervaters übernehmen, kam mit dem Jurastudium aber einfach nicht voran. Erst als er mit dem Medizinstudium nach den eigenen Fähigkeiten wählen durfte, konnte er Ehe und Karriere retten.

Nicht wenige Eheschließungen auch des 18. Jahrhunderts geben durchaus andere Verläufe preis. Es standen schwangere Frauen vor dem Altar und Brautpaare, die sich in „Unordnung“ oder „Unehren“ zusammengefunden hatten. Etliche wurden auch nicht vor dem Altar, sondern vor dem Wochenbett „kopulieret“, wie dies die Pastoren festhielten. Bei vielen mussten jedoch erst einmal die Familienverhältnisse vor der Ehe geordnet werden. Durch die hohe Sterblichkeit im 18. Jahrhundert waren die Familien oft bunt gemischt: Die Patchworkfamilie ist durchaus keine Erfindung unserer heutigen Zeit. Daher mussten Erbansprüche von Kindern und Hinterbliebenen aus früheren Ehen geklärt oder gar geflüchtete Ehegatten identifiziert werden, die sich nun wild entschlossen in eine zweite Ehe stürzten. Das Vorhaben einer Ehe wurde daher über ein dreimaliges Aufgebot öffentlich verkündet. Erst wenn es keine Einsprüche gab, durfte eine Ehe geschlossen werden. So war auch diese Zeit vor der Eheschließung vom ersten Aufgebot bis zur Heirat riskant: Manche Paare trennten sich, weil ein Partner kalte Füße bekam, manchmal starben auch Braut oder Bräutigam in dieser Zeit.



Wie verbreitet war das Phänomen der aufstiegsorientierten Ehe? Verfolgten die verschiedenen sozialen Schichten dieses Ziel mit unterschiedlicher Vehemenz und wie veränderte sich dies mit dem Aufkommen des romantischen Liebesideals am Anfang des 19. Jahrhunderts? Sind Ehen mit weit auseinanderliegenden Heiratsorten ein Indiz für eine kalkulierte Heiratsstrategie? Offenbar war für eine nützliche Ehe manchmal keine Entfernung zu groß. So kam es im Jahr 1898 zu der vermutlich arrangierten Heirat zwischen der hallischen Kaufmannstochter Friederike Marie Schulze und dem ursprünglich aus Aalborg (Dänemark) stammenden, zum Zeitpunkt der Ehe aber in Bordeaux (Frankreich) lebenden Kaufmann Alfred Christian Emil Kirketerp.



Aber nicht nur der Beruf von Brautvater und Bräutigam, auch die Religion oder andere Faktoren waren entscheidend. So zeigt die Heirat zwischen dem Fabrikarbeiter Franz Johann Scholtyssik und der Karoline Hedwig Bunk dieses Muster. Beide waren polnische Katholiken, die nach Halle einwanderten. Mit Beispielen wie diesen ließen sich viele Seiten füllen. In der Masse genommen lassen sich sozialhistorische Phänomene analysieren und die These überprüfen, dass die sozialen Netzwerke im 19. Jahrhundert verglichen mit dem 18. Jahrhundert homogener wurden.