Gerichtsbauten in Halle – Musterbauten für die preußische Justizarchitektur
Mit Ausnahme des nicht auf unsere Zeit überkommenen Schöffenstuhls, der in der Südwestecke des Marktplatzes stand, setzte die Errichtung eigener, nur dem Gerichtszweck dienender Gebäude – wie anderenorts auch – in Halle erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Die frühen halleschen Gerichtsbauten nahmen in ihrem exemplarischen Charakter eine Leitfunktion im Rahmen der preußischen Justizarchitektur wahr. Der 1838–1842 im Radialsystem errichteten Straf- und Besserungs- Anstalt („Roter Ochse“) und dem 1839/40 entworfenen und bis 1842/43 errichteten Inquisitoriat galt das persönliche Interesse des Königs. Das Inquisitoriat stellte einen ersten Höhepunkt im Ausbau des Geländes zwischen Kleiner Steinstraße und der ehemaligen Stadtbefestigung (Poststraße, Hansering) zum halleschen Gerichtsstandort dar, der den Charakter eines Justizforums gewann.
Die preußischen Justizverordnungen des Jahres 1849 mit der Festlegung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens und der Prozessbeteiligung von Staatsanwaltschaft und Geschworenen (Laienrichtern) stellten erhöhte Anforderungen an den Justizbau. In den Mittelpunkt der räumlichen Organisation eines Kriminalgerichts rückte der Schwurgerichtssaal (Assisensaal) mit seinen Nebenräumen. Carl Ferdinand Busse entwickelte gemeinsam mit Friedrich August Stüler 1849 in der Berliner Oberbaudeputation einen Musterplan, der auch dem Bau des halleschen Schwurgerichtssaal als Aufstockung des Inquisitoriats 1850/51 als Vorlage diente.
Das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877/79, das eine Vereinheitlichung der Justizverhältnisse im Deutschen Reich bewirkte, führte zu einem Bauboom, der bis zum Ersten Weltkrieg anhielt. Zum wichtigsten Vorhaben dieser Jahre geriet in Halle der 1878 projektierte und 1879–1882 ausgeführte Neubau des Landgerichts im Stil der italienischen Neurenaissance. Den Entwurf lieferte der im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten zuständige Ressortleiter Justizbau Heinrich Ludwig Alexander Herrmann. Das Landgericht nahm als Winkelbau den östlichen Teil des Justizareals ein und wandte sich mit seiner Schauseite zur 1872/73 neu angelegten repräsentativen Poststraße (Hansering). Leider gehört es zu den Kriegsverlusten. An seiner Stelle steht heute das Technische Rathaus.
Mit dem Bevölkerungswachstum und der steigenden Zahl von Gerichtseingesessenen stieg die Bedeutung des Gerichtswesens. Immer neue räumliche Bedürfnisse mussten erfüllt werden. Hinzu kam die Neigung, das staatliche Gewaltmonopol in einer aufwändigen, repräsentativen historistischen Architektur zu demonstrieren und in riesigen „Justizpalästen“ zu vergegenständlichen. Die expandierende mitteldeutsche Industriegroßstadt Halle blieb von dieser Entwicklung nicht unberührt. Umfangreiche Bemühungen, für die benötigten Gerichtsgebäude den geeigneten zentralen Standort und eine gattungsspezifische architektonische Gestalt zu finden, sind in den Quellen erfasst.
Nach den Plänen von Paul Thoemer und Karl Illert wurde schließlich an der Ecke Hansering/Rathausstraße 1901–1905 ein großes Gerichtsgebäude als Zweihofanlage mit flankierenden Ecktürmen und großer zentraler Treppenhalle im Neostil der deutschen Frührenaissance errichtet. Das frühere Zivilgericht (heute Landgericht) zeichnet sich durch eine vorbildliche städtebauliche Einbindung und den bewusst gesuchten Bezug zum dominierenden lokalen Stilcharakter aus. Im außergewöhnlichen Reichtum der farbigen und bildkünstlerischen Ausstattung kann das beispielhaft sanierte Baudenkmal zudem deutschlandweit einen Ausnahmestatus beanspruchen.
Für die Strafabteilungen des Amtsgerichts entstand wiederum nach dem Entwurf von Thoemer und Illert 1906–1910 am alten Standort in der Kleinen Steinstraße ein repräsentativer Neubau, der überlieferte Bauelemente (Portal, Erker, Fenster) aus Renaissance und Barock im Sinne eines denkmalpflegerischen Anliegens als Spolien bzw. Kopien in die Fassadengestalt mit einbezieht, im Übrigen aber im üppigen Neostil des süddeutschen Barocks gehalten ist. Heute hat hier das Landesamt für Denkmalpfl ege und Archäologie Sachsen-Anhalt seinen Sitz.
Noch gegenwärtig treten die repräsentativen Gerichtsbauten im Stadtbild auffällig in Erscheinung. In ihrer zentralen Lage, Größe, differenzierten Baukörpergestalt sowie im Reichtum der architektonischen und bildkünstlerischen Ausstattung übernahmen sie bei der Umstrukturierung des mittelalterlichen Stadtkerns zur modernen „City“ die wichtige Aufgabe, markante Akzente zu setzen. Ihre Bedeutung sowie ihr anhaltender praktischer Nutzen erweisen sich zudem darin, dass sie weiterhin in ihrer ursprünglichen Funktion, nämlich als Gerichtsgebäude, im Gebrauch sind, zum Teil aber auch einer anderen öffentlichen Verwendung zugeführt werden konnten.
(Autor/in: Dieter Dolgner)