Eine Frage der Ehre - Studenten der Friedrichsuniversität erobern Halle

Als Ende des 17. Jahrhunderts mit der Gründung der hallischen Friedrichsuniversität die Studenten Einzug in die preußische Grenzstadt hielten, schwante vielen ihrer Bürger nichts Gutes. Denn überall im Reich konnte man beobachten, dass in den Universitätsstädten die Studenten ein permanentes Unruhepotential schufen, dass es ständig Konflikte gab. Andererseits brachten vermögende, adlige Studenten auch Geld in die Städte, Geld, das Halle nach dem Abzug des Hofes 1680 dringend nötig hatte. Sollte man sich also freuen oder nicht, über die Ankunft der neuen Sozialgruppe in der Stadt? Die Hallenser freuten sich eher nicht.



Gustav Friedrich Hertzberg machte dafür am Ende des 19. Jahrhunderts in seiner Stadtgeschichte eine defensive Einstellung der Hallenser gegenüber Neuem verantwortlich. Dies mag dahin gestellt sein, und einer noch zu schreibenden Mentalitätsgeschichte der an Umbrüchen so reichen Saalestadt vorbehalten bleiben. Was sich dagegen jedoch deutlich sagen lässt ist, dass die Hallenser wussten, was auf sie zukam: Das Ausleben der so genannten „Akademischen Freiheit“ der Studenten. Dieser Begriff beschrieb schon zeitgenössisch . gewaltbereite Praktiken wie etwa Duelle, Gottesdienst- und Hochzeitsstörungen, und hatte aus Sicht der Studenten kaum etwas mit geistiger, mit wissenschaftlicher Freiheit zu tun. Es ging ihnen um etwas anderes: Mit diesem Tun im Raum der noch ummauerten frühneuzeitlichen Stadt zeigten sie an, dass sie sich als ein eigener, in Halle neuer, Stand im Sozialgefüge der Stadtgesellschaft begriffen, der sich in der Hierarchie über den Bürgern und über dem Militär positioniert sah.

Verwurzelt war dieses Selbstverständnis in einer über mehrere Jahrhunderte gewachsenen Überzeugung, durch die Möglichkeit, ein Studium zu absolvieren, eine herausgehobene Stellung einzunehmen, sowie darin, dass die Studenten nicht der städtischen, sondern der Universitätsgerichtsbarkeit unterstanden. Die Studenten des 18. Jahrhunderts fühlten sich und standen rechtlich gesehen tatsächlich in einer Sonderposition im Sozialorganismus Stadt. All dies zusammen konstituierte eine ganz eigene studentische Ehre, die es als Einzelner und als Gruppe zu demonstrieren und zu „verteidigen“ galt. Ehre war in der frühneuzeitlichen Stadt ein gesellschaftlich überaus relevantes Gut, das seinem Träger Ansehen und Respekt brachte, wenn es nach außen sichtbar war und Anfeindungen abgewehrt wurden. Die Ankunft der Studenten verändert also das soziale Gefüge der Stadt signifikant.



Die preußische Obrigkeit ging von Anfang an gegen die Praktiken der „Akademischen Freiheit“ mit Gesetzen, d.h. im Sprachgebrauch der Zeit mit „Edikten“ und „Reskripten“, und sich auf dieser Basis anschließenden Gerichtsuntersuchungen vor. Auch wenn diese Gesetze die vielen einzelnen Vorgänge in der Lebenswirklichkeit der Stadt in juristisch anwendbare Rechtstexte übersetzten, waren sie ein Spiegel der konfliktreichen Alltagskultur zwischen Studenten, Stadtbürgern und Garnison. So berichtete das königliche „geschärffte Edict Wider die Tumulten“  von 1724 für die Universität Halle u. a. von studentischem Geschrei, von der „spolirung [Plünderung] der Glücks-Buden“, der „Einwerff= und Schmeißung“ von Fenstern und dem provokativen „Wetzen“ mit den Degen auf dem „Stein“ in der Straßenmitte. All dies wird unter Strafe gestellt und mit der in dieser Zeit durchaus üblichen Androhung versehen, dass studentische Übeltäter später keine Beförderung im preußischen Landesdienst erhalten würden. Gleichzeitig regelt das Edikt, wie die Stadt im Falle von Tumulten zu handeln habe – eine Beschreibung, die einem schnellen Eingreifplan entspricht: Es soll die Bürgerglocke geläutet werden, danach kommen „compagnien von jungen frischen Bürgern mit Ober= und Untergewehr“ sowie eine hinlängliche Zahl von Bornknechten im Tal mit „höltzernen Morgensternen“ auf dem Markt bzw. auf dem Domplatz oder dem Berlin zusammen. Außerdem soll die „geharnischte Stadt= und Schaarwache durch die Gaßen der Stadt patroulliren“ und die Studenten, aber auch den zusammenlaufenden Pöbel, die „Handwercks=Purschen, Mägde, und Jungens“, auseinander treiben. Der Einsatz der in Halle liegenden Garnison ist dagegen aus Deeskalationsgründen nicht vorgesehen – wohl wissend, dass ein Aufmarsch des Militärs das Ehrgefühl tumultierender Studenten weiter anstacheln würde.

Es lag in der Logik des studentischen Ehrverständnisses, dass sich die Tumulte und Auseinandersetzungen mit Bürgern und dem Militär, aber auch mit Studenten, die sich diesem Zwang zur Ehre nicht unterziehen wollten, bestenfalls punktuell, nicht aber dauerhaft in den Griff bekommen ließen. Die immer wieder ausgemachte „Uneinsichtigkeit“ der Studenten und das damit verbundene Beklagen – je länger das 18. Jahrhundert dauerte, um so häufiger –, dass derlei Tun nun schon so lange und häufig verboten sei und verfolgt werde, und dennoch immer weiter gehen würde, traf nur bedingt die eigentliche Ursache. Das unangepasste, oft gewalttätige und sicher in vielen Fällen unzivilisierte Verhalten der Studiosi war in erster Linie kein erzieherisches Problem, und es ist auch nicht vornehmlich mit jugendlich-männlichem Überschwang zu erklären. Beide Erklärungsansätze der Zeitgenossen, die auch in der älteren Sittengeschichte zur Kultur der Studenten immer wieder vorgebracht worden sind, greifen zu kurz: Denn die Studenten mit ihrer spezifischen Ehre standen quer zur vormodernen, vertikal nach Ständen gegliederten Gesellschaft. Diese grundlegende Konfliktkonstellation konnte sich erst mit dem aufziehenden bürgerlichen Zeitalter im 19. Jahrhundert auflösen.

(Holger Zaunstück, Kulturfalter Juni 2009)