Die St.-Jacobs-Kapelle? Eine neue Interpretation des ersten Siegels der Bürger von Halle

Im Stadtmuseum von Halle wird unter der Inventarnummer 230 ein aus dem Stadtarchiv stammendes, etwa 10 cm großes Siegeltypar ausgestellt. Das sehr gut erhaltene, prachtvolle Stück wird als „Erstes Siegel der Bürger von Halle“ beschrieben und auf die ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts datiert. Das wuchtige Bauwerk im Zentrum des Siegels wird als Stadtbefestigung gedeutet. Bei näherer Betrachtung erkennt man einen schweren, nach oben kuppelförmig abschließenden, zylindrischen Bau mit detaillierter Quaderzeichnung und kleinem Eingang im Zentrum, der von einer ebenfalls aus Quadern bestehenden Laterne bekrönt wird. Der Bau wird an beiden Seiten von fein gegliederten Türmen flankiert. Die deutsche Übersetzung der lateinischen, zirkulär verlaufenden Randinschrift lautet: „Siegel der Bürger von Halle“.

Obgleich auch auf weltlichen Brakteaten des 12. Jahrhunderts reich gegliederte Turmelemente als Palastarchitektur zu finden sind, macht die zentrale Laterne jedoch einen kirchlichen Bau eher wahrscheinlich, auch wenn weder die Laterne noch die Türme mit einem Kreuz bekrönt sind. Der zylindrische Korpus des Baus ermöglicht leicht die Assoziation zu einem insbesondere in Ostmitteleuropa häufigen Kirchentyp: dem der Rotunde. Dieser in der Tradition der Anastasisrotunde der Grabeskirche in Jerusalem stehende Kirchentyp ist besonders in Böhmen und Polen seit dem ausgehenden 10. Jahrhundert häufig zu finden. Er wurde bis in das frühe 13. Jahrhundert gebaut, wobei bestehende Rotunden im 12. Jahrhundert häufig mit einem neuen Bildprogramm versehen (z. B. Znojmo/Mähren) oder Türme hinzugefügt wurden (z. B. Strzelno/ Polen, Budec und Přední Kopanina/Böhmen).



Auch in Mitteldeutschland gibt es eine Tradition des Rotundenbaus, die mit dem Namen Graf Wiprecht II. von Groitzsch (1050–1124) eng verbunden ist. Sowohl auf der Burg von Groitzsch als auch in Knautnaundorf haben sich bedeutende bauliche Überreste von romanischen Rotunden erhalten. In der Literatur wird immer wieder die Heirat Wiprechts mit Judith, einer Tochter des Herzogs und ersten Königs von Böhmen Vratislav II. (1035–1092), als Hauptimpuls für die Errichtung von Kirchen nach böhmischem Vorbild genannt.

In der Tat waren Wiprecht und der Böhmenherzog die wichtigsten Unterstützer Kaiser Heinrichs IV. (1050–1106) in seinem erbitterten Kampf gegen die Fürstenopposition im Reich. Auch für Halle, wo Wiprecht seit 1118 seinen Amtssitz als Burggraf von Magdeburg hatte, ist eine Kapelle in Gestalt einer Rotunde belegt, die noch bis 1797 auf dem ehemaligen Burggrafenhof auf dem Sandberg erhalten war und dann abgerissen wurde. Der hallesche Chronist Dreyhaupt beschreibt sie 1749 als „… zierlich und rund wie das Pantheon zu Rom“.



Könnte das Bauwerk auf dem Siegel, möglicherweise, die Rotunde St. Jakob auf dem Burggrafenhof sein? Auch wenn Dreyhaupt keine Türme beschreibt, könnte der massige, gewölbte Baukörper mit aufgesetzter Laterne durchaus eine Rotunde darstellen, zumal die noch im 13. Jahrhundert vorhandenen Türme zu dieser Zeit bereits einem Abriss zum Opfer gefallen sein könnten. Auch das Fehlen von Kreuzen auf Laterne und Türmen spricht nicht gegen eine Kirche, da eine ähnliche Struktur auf dem Siegeltypar des Benediktinerklosters Pegau off ensichtlich eine Kirche, auch ohne Kreuze, darstellt.

Bleibt man bei der Hypothese einer Darstellung der St. Jakob geweihten Rotunde auf dem Siegel, muss noch die Frage nach dem Grund ihrer Verwendung geklärt werden. Halle war eine erzbischöfl iche Stadt, in der die Herrschaftsrechte des Stadtherren durch den Burggrafen ausgeübt wurden. Folglich dürfte der von Wiprecht ab 1118, zusammen mit den Stadtmauern von Halle, errichtete Burggrafenhof auch in den folgenden Jahrhunderten ein wichtiger Ort der Interaktion zwischen Stadtherren und Bürgerschaft gewesen sein. Wichtiger Teil dieser Interaktion waren Treueeide der Bürgerschaft gegenüber dem Stadtherren, die im Mittelalter immer in einem sakralen Rahmen geleistet wurden.

Auch wenn für Halle nicht konkret überliefert, wäre eine Eidesleistung der Bürger gegenüber dem Burggrafen als Vertreter des Erzbischofs in der St. Jakobs-Kapelle des Burggrafenhofes durchaus denkbar, die damit, als Zeichen eines Rechtsaktes, ihren Platz auf dem Siegel gefunden hätte. Natürlich kann die genannte Interpretation nur eine Hypothese sein. Sie bietet aber dem Interessierten sowohl einen Zugang zu einem heute verlorenen Bauwerk des mittelalterlichen Halle als auch zur Rechtsgeschichte der Stadt.

(Autor/in: Stefan Moeller)