Die hallesche Laurentiustafel

Seit ottonischer Zeit zählt Laurentius zu den am stärksten verehrten Heiligen in Mitteldeutschland. Unter seinem Patrozinium stand das von Kaiser Otto I. (912–973) begründete Bistum Merseburg; zahlreiche Kirchen und Kapellen, wie die Laurentiuskirche in der heute zu Halle gehörigen Amtsstadt Neumarkt, wurden ihm zu Ehren geweiht.

Die Legende des Heiligen ist im ganzen Mittelalter populär: Kurz bevor Papst Sixtus II. am 6. August 258 unter Kaiser Valerian sein Martyrium erlitt, überreichte er seinem Diakon Laurentius die Schätze der Kirche,damit dieser sie sicher verwahre. Laurentius verteilte das Kirchenvermögen an die Armen und Kranken Roms. Vor den Kaiser geführt und aufgefordert, ihm den Schatz der Kirche zu überreichen, führte er diesem die Elenden vor und betitelte sie als den ‚wahren Schatz der Kirche’, woraufhin der erboste Herrscher ihn zum Tode durch das Feuer auf dem Rost verurteilte.



Die Vorführung vor dem Kaiser schildert die Darstellung auf der halleschen Laurentiustafel, sie wird von einer umlaufenden Inschrift kommentiert. Hinter dem heiligen Diakon Laurentius sind vier Elende in drastischer Weise dargestellt. Hier werden zum ersten Mal in der Kunst Arme und Kranke als solche gezeigt. Der Kaiser, bei dem es sich laut Inschrift hier um Decius handelt, wird von drei Helfern flankiert. Der linke trägt einen Schild mit einer der frühesten konkreten Wappendarstellungen. Die fünf blauen Balken auf weißem Grund können auf eine Stiftungaus askanischem Haus hindeuten. Als Stifter kommen somit Albrecht der Bär (1100–1170) oder seine Söhne Otto Markgraf von Brandenburg (1128–1184) und Bernhard Herzog von Sachsen (1140–1212) in Frage. Denn die feuervergoldete Grubenschmelzarbeit wurde um 1170–1180 im Umkreis der im späten 12. Jahrhundert in Blüte stehenden Hildesheimer Goldschmiedekunst geschaffen.

Die Fortsetzung der Geschichte, den qualvollen Tod, führt eine weitere Emailtafel vor, die sich heute im Cleveland Museum in Cleveland (Ohio) befindet. Sie schildert auf drastische Weise die Verurteilung und das Martyrium. Aufgrund der großen inhaltlichen, technischen und stilistischen Gemeinsamkeit muss die Clevelander Platte einst mit der halleschen Laurentiustafel in einem Zusammenhang gestanden haben. Beide Arbeiten können so einst – mit weiteren verloren gegangenen– einen Tragaltar oder ein Reliquiar geschmückt haben, in dem sich Reliquien beispielsweise des hl. Laurentius selbst befunden haben. Wann dieser Zusammenhang aufgelöst wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Die Clevelander Tafel lässt sich bis 1878 als Einzelstück zurückverfolgen.



Die hallesche Laurentiustafel wurde 1978 durch einen Baggerführer im Bauschutt des Renaissance-Stadtpalastes Kühler Brunnen gefunden und wenige Jahre später der Forschung zugänglich gemacht. Unklar bleibt, wie die Emailtafel dorthin gelangte. Wurde sie in den Wirren der letzten Kriegstage dort verborgen oder bereits zur Bauzeit als ‚Bauopfer’im Gebäude vermauert? Letzteres scheint wahrscheinlich, hatte doch Kardinal Albrecht mit dem ‚Halleschen Heiltum’ eine unermesslich große Reliquiensammlung und sein Kämmerer Hans von Schönitz (1499–1535), der Erbauer des Kühlen Brunnens, Zugang zu diesem. Außerdem sind einige Laurentiusreliquien für das Heiltum überliefert, die im frühen 16.Jahrhundert neue Reliquiare erhielten, sodass es sich bei beiden Plattenum – freilich sehr wertvollen – ‚Abfall’ handeln könnte.

Wenige Schritte entfernt, beim Bau des Vereinshauses Sankt Nikolausin der Großen Nikolaistraße, wurde 1913 die ‚hallesche Ottoschale’ gefunden. Die Laurentiustafel, die um 1200 entstandene Ottoschale sowie zwei romanische Türklopfer sind die bedeutendsten Zeugnisse des Hochmittelalters in Halle.

(Philipp Jahn, Kulturfalter September 2015)