Die Armenversorgung in Halle im 17. Jahrhundert am Großen Berlin – eine Standortgeschichte

Das heutige Gelände der Berufsbildenden Schule Friedrich List IV (Haus II) befindet sich am Waisenhausring 13, mitten im pulsierenden Teil der Stadt mit viel Verkehr und dem Trubel der Einkaufsstraßen. Kaum zu glauben, dass dieser Teil der Stadt einst eher abseits im Schatten der Stadtmauern lag. Im späten Mittelalter  und früher Neuzeit erstreckte sich hier, zwischen der Rannischen Straße und der Leipziger Straße (früher Galgstraße) – zunächst am Großen Berlin, dann etwas weiter östlich und auch das heutige Schulgelände einschließend – der Bauhof von Halle. Dieser war im 16. und 17. Jahrhundert ein wichtiger Ort für die hallische Armenversorgung.

Im Mittelalter basierte die Almosengabe und Armenfürsorge vor allem auf dem Gebot Jesu der Nächstenliebe und seiner Anweisung „Was ihr für einen der geringsten unter meinen Brüdern getan habt, das habt Ihr mir getan“ (Matthäus 25,40). Ein erheblicher Teil der Bevölkerung war arm. Diese Menschen litten unter einem Mangel an dem für das Leben notwendigen Unterhalt, sie waren auf Unterstützung angewiesen und mussten zum Teil offen betteln. Besonders alte, schwache und kranke Stadtbewohner waren auf Hilfe angewiesen. Diese Hilfe gewährten vor allem kirchliche Einrichtungen wie die Bettelorden mit ihrer Beherbergung und Krankenpflege sowie die Pfarrkirchen, vor deren Pforten sich die Bettler einfanden. Neben dem im Vorübergehen gegebenen Almosen und dem Scherflein im Opferstock ließen wohlhabende – aber auch weniger reiche – Bürger zur Erlangung ihres Seelenheils ihr Vermögen in fromme Stiftungen einfließen. Zudem richtete Halle bereits sehr früh, im Jahre 1341, ein eigenes, kommunales Hospital ein, das Hospital St. Cyriacus. Hier fanden vor allem Ältere Unterkunft und Betreuung. Es war ursprünglich am Domplatz ansässig: Mit der Errichtung der „Neuen Residenz“ in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts fand es nach einer Zwischenstation seinen Standort auf dem Gelände des ehemaligen Klosters Marienkammer vor dem Moritztor. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde es mit dem Pestkrankenhaus St. Antonius vereinigt. Viele Hallenser vermachten dem Hospital ihr Vermögen oder Grundbesitz. Hieraus stammten die Einkünfte des Hospitals, das auch Teil der Armen- und Altersversorgung der Halloren und einiger Zünfte war.



Nach der Reformation unternahm der Rat weitergehende Schritte im Umgang mit der Armut, wie insgesamt der Organisationsgrad der städtischen Gesellschaft stieg. Dies bewies Halle u.a. mit dem Erlass einer „Ordnung der Almosen- oder BeckenHerrn“ im Jahre 1596 und zwei Almosenordnungen in den Jahren 1642 und 1664. Durch Schaffung von Ämtern und Zuständigkeiten wurde versucht, einen normativen Hintergrund durchzusetzen und das gesellschaftliche Zusammenleben zu steuern. Der christliche Glaube sollte zwar weiterhin Antrieb des sozialen Handlungswillens sein, dieser aber auch planbar werden. Wichtigstes Ziel war, durch die gleichmäßige und gerechte Versorgung der Armen das Betteln in der Stadt einzudämmen. Die Almosenordnung des Jahres 1664 beschreibt u. a., dass in der ganzen Stadt – neben dem „Kirchenkästlein“ auch in Gaststätten, Weinschenken und Bierkellern – Almosenbüchsen für Geldspenden angebracht waren und dass Almosenknechte mit Körben durch die Straßen zogen, um Brot zu sammeln. Die Überwachung und Verwaltung der Spenden übernahm das Almosen- bzw. Beckenamt. Der Begriff des Beckenamtes etablierte sich, weil die gesammelten Geldspenden in einem großen Becken oder Kasten gesammelt wurden, um dann aufgeteilt zu werden. Bei der Austeilung, die täglich im Rahmen einer Betstunde am Bauhof „auff dem Berlien“ stattfand, wurde zwischen wirklich bedürftigen Armen und Armen, die durchaus einer Beschäftigung nachgehen konnten, unterschieden. Es entstand eine Bedürftigkeitsprüfung.

Belege dafür liefert eine handgeschriebene Almosenliste von ca. 1645. In dieser Liste sind Namen und entsprechende Notizen aufgeführt, aus denen man entnehmen kann, aus welchen Gründen Almosen verwehrt oder ausgegeben wurden. Zum Beispiel hatte Elisabeth Sorgeren erst Anspruch auf Almosen, weil sie drei kleine Kinder hatte und somit nicht arbeiten gehen konnte. Nachdem zwei der Kinder verstorben waren, bekam sie keine Unterstützung mehr, da sie nun wieder arbeiten konnte. Weitere Beispiele sind Maria Stützer, die zur Almosenempfängerin wurde, da sie erblindete, und Maria Tragers, die 61 Jahre alt war und nicht mehr arbeiten konnte. Neben der gesundheitlichen oder sozialen Voraussetzung für seine Bedürftigkeit musste der Almosenempfänger an der wöchentlichen Katechismuspredigt teilnehmen. Die Festigung des Glaubens und das Gebet für die Stadt und die Almosengeber waren die einzige Gegenleistung, welche die Empfänger zu leisten hatten. Das Elend der Armen und Bedürftigen konnte somit gelindert werden.



So findet man gewisse Parallelen zwischen dem sozialen Handeln im frühneuzeitlichen Halle und dem heutigen, deutschen Sozialstaat. Heute ist einem großen Teil der Bevölkerung nicht mehr bewusst, welchen Stellenwert die soziale Absicherung für die eigene Existenz hat. Das System wird als Selbstverständlichkeit angesehen und der Staat sehr oft als Nutznießer dargestellt. Dies soll nicht als Vorwurf gegen eine kritische Betrachtung der staatlichen Versorgung verstanden werden, sondern vielmehr ein Gedankenanstoß sein, wie das gesellschaftliche Gefüge ohne das heutige System der Sozialversicherung aussehen könnte. Wir profitieren noch heute von den Grundsteinen, die in der Vergangenheit gelegt wurden.

Eine Klasse von Auszubildenden zum Sozialversicherungsfachangestellten der berufsbildenden Schule Friedrich List IV., darunter die Autorin, beschäftigte sich im Rahmen einer Projektwoche im Sommer 2012 mit der Armenversorgung am Bauhof und fragte danach, wie man sich um Arme, Alte und Kranke kümmerte, bevor es den modernen Sozialstaat gab. Die kürzlich fertiggestellte Dokumentation des Projekts ist im Stadtarchiv Halle einzusehen.

(Stefanie Klier, Kulturfalter September 2013)