Chimären, das Ballett der Versehrten
Kulturfalterredakteurin Scyllia Ahlouwa hat ein Interview mit den französischen Schauspielern Jean-Christophe Cochard (1. von links), Christel Montaigne (3. von links) und Antoine Malfettes (2. von rechts) geführt. Bei ihrem Gespräch ging es um das Theaterstück „Chimären: das Ballett der Versehrten“, das im Laufe des deutsch-französischen Festivals „Nouveaux Auteurs“ gespielt wurde, welches vom 9. bis 13. Mai in Halle stattfand. Das Stück beschreibt also die Porträts von verschiedenen Protagonisten, die als Gemeinsamkeit ein bestimmtes Leiden haben. Im Interview erklären die Schauspieler genau, womit sich die Aufführung beschäftigt und reden über ihre Eindrücke vom Stück und Halle.
Kulturfalter: Könnten Sie bitte das Theaterstück in einigen Worten vorstellen?
Antoine Malfettes: Ausgangsbasis des Stücks ist die Metapher einer zeitgenössischen Gesellschaft, die in einer Welt lebt, die sich im Niedergang befindet. Diese Gesellschaft hatte früher eine glorreiche Vergangenheit. In einem alten Haus „tanzen“ die Einwohner trotz des Einsturzes ihrer Welt einfach weiter. Auf diese Weise haben die Autoren die mythologischen Monster als Ausgangsbasis genommen, um sich danach an die innersten Monster der Menschen heranzuschleichen.
Könnten Sie ein bisschen über die deutsch-französischen Zusammenarbeit erzählen?
Antoine Malfettes: Ursprünglich handelte es sich um die Arbeit zwischen zwei Autoren, einen Deutschen und einen Franzosen. Daraus ist das Projekt „Outre-passeurs“ entstanden, in dem das französische Theater „Théâtre de la Tête Noire“ und das Thalia Theater kooperieren. Zwei oder drei Jahre, bevor das Projekt begann, sind ein deutscher Regisseur und deutsche Schauspieler erstmals nach Frankreich gefahren. Dort realisierten sie schon ein erstes Stück.
Christel Montaigne: Und jetzt machen wir die „Rückfahrt“, und dieses Mal ist die Regisseurin französisch. Es wurden zwei Autoren gefragt – eine deutsche und ein französischer –, ein neues Theaterstück zu schreiben und daraus sind die „Chimären“ entstanden.
Jean-Christophe Cochard: Was das Bühnenbild angeht, wurden die Autoren vom Thalia Theater selber inspiriert, besonders jedoch von den alten Säulen im Eingang. Außerdem wurden sie von den alten Häusern in Halle inspiriert.
Welche Besonderheiten haben die Figuren, die Sie interpretieren?
Antoine Malfettes: Es gibt ungefähr zwanzig Figuren. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass es keine fortgesetzte Geschichte gibt, sondern mehrere Szenen, die dasselbe Thema haben. Es gibt also nicht eine einzige Geschichte, sondern viele. In jeder Szene gibt es ein oder zwei Hauptfiguren, die mit einem „Chor“ spielen. Der „Chor“ besteht aus dem Rest der Randfiguren. Jede Figur ist als Motiv aufgebaut, und jede Figur hängt von diesem Motiv ab. Sie sind also durch das Ballett miteinander verbunden.
Jean-Christophe Cochard: Ich zum Beispiel spiele eine Figur, die Felix heißt. Er arbeitete früher als Fischer, ist aber wegen des Fischmangels arbeitslos geworden. Um diese Leere zu füllen, isst er zunehmend.
Christel Montaigne: Es gibt auch die Figur Manfred, der noch ein Kind ist. Er ist aber sich selbst überlassen und entwickelt seine inneren Regungen mit Heftigkeit. Als weitere besondere Figur gibt es Stella, die die einzige Person ist, die auf den Tod zugeht. Sie fühlt sich nur wohl, wenn sie mit sich im Unreinen ist und nicht auf dem Boden der Tatsachen steht. Metaphorisch kann man eine Parallele zur Magersucht herstellen.
Antoine Malfettes: Alle Figuren haben ein Leiden und fühlen Schmerz. Die Frage ist, ob sie wirklich monströs oder nicht sind. Zum Beispiel ist das Kind Manfred besonders gemein, ist aber trotzdem noch ein Kind.
Jean-Christophe Cochard: Anders ausgedrückt beruhen die Besonderheiten der Figuren auf einer realistischen und alltäglichen Dimension, die mit einem spektakulären Aspekt assoziiert wird.
Haben Sie Schwierigkeiten empfunden, die Aufführungen auf deutsch und französisch zugleich zu spielen?
Jean-Christophe Cochard: Ja, es war ziemlich schwer, in den beiden Sprachen zu spielen.
Christel Montaigne: Es war einerseits zugänglich, weil wir natürlich eine französische Version der Texte hatten. Aber es war trotzdem kompliziert. Denn ich kann gar kein Deutsch. In einer der Szenen, in der ich mit einer deutschen Akteurin spielte, haben wir versucht, auf die letzten Wörter zu hören, um zu wissen, wann wir dran waren. Aber einmal kamen wir ins Schwimmen, weil ein Satz vergessen wurde. Zum Glück konnte ich mich fangen… Es ist also einfacher, wenn man die Sprache versteht. Obwohl ich wusste, was sie sagte, denn ich hatte ja auch ihren Text auf französisch gelesen, wusste ich nicht genau, was die deutschen Wörter bedeuteten.
Antoine Malfettes: Ich persönlich hatte schon im Gymnasium deutsch studiert. Deshalb konnte ich einige Sätze verstehen. Ursprünglich komme ich auch aus der Commedia dell’arte und deswegen war ich schon ein bisschen daran gewöhnt, mit Akteuren zu spielen, die kein Französisch sprechen. Da jeder in seiner eigenen Sprache spielte, mussten wir immer auf Schlüsselwörter reagieren. Die Technik war, eine bestimmte Betonung an diesen Kernwörtern hinzufügen, damit die anderen Schauspieler reagieren können. Daraus ergibt sich ein besonderes Mithören, weil wir nicht den ganzen Satz, sondern nur die Hervorhebung der Wörter hören. Es erforderte also eine sehr große Konzentration.
Jean-Christophe Cochard: Deutsch ist sehr schwer für mich. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man gezwungen wird, viel mit der Glaubwürdigkeit der Akteure zu spielen. Man kann einfach nicht nur Wörtern vertrauen. Man sollte also nicht geizig mit Gefühlen und Betonungen sein. Das war sehr interessant, weil wir nicht nur spielen konnten: Wir mussten richtig voll und ganz die Figuren verkörpern.
War es eine positive Erfahrung, trotz der Schwierigkeiten, die Sie erlebt haben?
Jean-Christophe Cochard: Ja, insofern diese „deutsch-französische“ Konfrontation nicht nur ein richtiges Spektakel war. Sondern uns auch die Möglichkeit geboten hat, einen kulturellen Austausch zu genießen.
Christel Montaigne: Ja, zum Beispiel haben wir gesehen, dass Schauspieler in Deutschland nicht denselben Status wie in Frankreich haben. In Deutschland arbeiten sie eher wie „Funktionäre“, während wir eher als „free-lancer“ in Frankreich arbeiten. Daraufhin waren die Methoden sowie die Mentalitäten verschieden. Auch im Rahmen der Arbeit selbst gibt es auf der Bühne Unterschiede. Zum Beispiel ist das Belichtungssystem in Frankreich sehr wichtig: Es gibt verschiedene Beleuchtung, je nachdem, welcher Schauspieler in den Fokus gerückt wird. Hier haben wir erfahren, dass die Beleuchtung auf der Bühne weniger wichtig ist. Außerdem schminken sich die französischen Akteuren selbst, während in Deutschland die Schauspieler von Professionellen geschminkt werden. Es gibt wenige Theater in Frankreich, die genug Geld haben, um beständig Visagisten zu engagieren. Deswegen haben wir selbst gelernt, uns zu schminken.
Jean-Christophe Cochard: Es gibt sozusagen eine Kultur der Beleuchtung in Frankreich und eine Kultur der Maskenbildner in Deutschland. Das war also eine wirkliche kulturelle Trennung, eine reale Konfrontation, in der wir die Probleme nicht vermieden haben. Das heißt, dass wir versucht haben, ein richtiges Gesamtwerk zu kreieren.
Christel Montaigne: Und alle diese Differenzen sind sehr bereichernd für uns. Man entdeckt viel, zum Beispiel gefällt mir die Sicherheit, wie die Deutschen sie haben. Weil man einfach sein Gewerbe, ohne diese Ungewissheit, die man in Frankreich hat, betreiben kann. Dagegen vermisse ich hier das Gastieren. In Frankreich sind wir daran gewöhnt, häufig in vielen verschiedenen Städten zu spielen. Hier aber spielt man immer im selben Theater.
Wie fühlen Sie sich in Halle? Was gefällt Ihnen oder was nicht?
Antoine Malfettes: Wir fühlen uns sehr wohl hier! Es gibt ziemlich viel zu sehen und zu machen. Die Kneipen sind auch cool.
Christel Montaigne: Die Döner Kebab hier sind viel besser und auch viel billiger! Ich bin auch gern in Parks unterwegs. Daher finde ich es klasse, dass es hier so viele Leute gibt, die in den Parks spazieren gehen oder grillen.
Jean-Christophe Cochard: Ja die Leute sind sehr nett hier, immer hilfsbereit, und (erstaunlicherweise) sehr ruhig.
Antoine Malfettes: Aber „kalt“ ist es hier nicht, wie mancher es erwartet hätte. Besonders, da es das Klischee des „kalten Ostdeutschland“ gibt.
Christel Montaigne: Die öffentlichen Verkehrsmittel haben mich angenehm überrascht, weil sie bis spät in die Nacht fahren.
Jean-Christophe Cochard: Ja, das ist eine sehr gute Sache. In Orléans zum Beispiel ist der Verkehr nach Mitternacht einfach tot!
Christel Montaigne: …und man hält an der roten Ampel, auch wenn kein Auto fährt!
Antoine Malfettes: Und alle hier fahren mit dem Rad, egal wie alt oder wie reich sie sind.
Jean-Christophe Cochard: Hier gibt es eine sehr positive Neugier der Leute, die uns gegenüber sehr offen waren und einfach nur mit uns ein bisschen sprechen wollten.
Christel Montaigne: Aus diesen Gründen würde ich ebenso gern hier leben!
Möchten Sie eine solche Erfahrung noch mal wiederholen?
Christel Montaigne: Ja, auf jeden Fall! Aufgrund dieser Erfahrung habe ich den Wunsch, Deutsch zu lernen. Außerdem sind meine persönlichen Kenntnisse, und zwar nicht nur fachlich, sondern auch menschlich, gestiegen. Es war sehr interessant zu erfahren, wie unser Beruf hier betrachtet wird: Wie wird ein Schauspieler in Deutschland angesehen, wie sieht er seine Arbeit, welchen Platz hat er in der Gesellschaft usw.…
Antoine Malfettes: Dank solcher Erfahrungen haben wir die Möglichkeit, neue Begegnungen zu machen. Das finde ich wunderbar. Man trifft neue Mentalitäten, entdeckt verschiedene Kulturen und Städte. Ich persönlich hätte nie gedacht, dass ich mal nach Halle fahre. Und jetzt freue ich mich sehr darüber, diese schöne Stadt entdeckt zu haben.
Jean-Christophe Cochard: Ja, auch wenn es das Hindernis der Sprache gibt, hat man trotzdem Lust, den Anderen kennenzulernen.
Antoine Malfettes: Auf diese Weise sieht man auch, wie wir selbst dargestellt werden, was für Stereotype und Klischees die anderen über uns haben. Zum Beispiel waren einige deutsche Schauspieler sehr erstaunt über unsere Begrüßungsweise – man küsst sich zwei oder vier Mal auf die Wangen. Das ist total anders als hier! Aber ja, ich würde wirklich gern diese Erfahrung wiederholen.
Vielen Dank für das Gespräch!
(Scyllia Ahlouwa, Kulturfalter, Mai 2012)