Halle ist die beste Stadt im Osten

Wladimir Kaminers nicht mehr ganz neues Buch heißt „Liebesgrüße aus Deutschland“. Als der Autor im März 2012 auf der Leipziger Buchmesse war – einen Abend zuvor war er zu einer Lesung im Steintor – haben wir ihn getroffen. Kulturfalterredakteur Nico Elste sprach bei einem Kaffee mit ihm über sein Buch, dessen Reaktionen und wann er mal wieder mit der Russendisko nach Halle kommt.

Kulturfalter: „Liebesgrüße aus Deutschland“ heißt Ihr neues Buch. In einem Interview sagten Sie, ein Ausländer müsse ein Buch mit einem solchen Titel schreiben, gerade wenn ein Bundesbänker ein Buch mit dem Titel „Deutschland schafft sich ab“ verfasse. Warum?

Wladimir Kaminer: Um ein Gleichgewicht zu schaffen. Deutschland genießt viel Kritik. Jeder weiß letztlich, wenn man kritisiert, wird man gelobt. Deswegen versuche ich gegen den Mainstream zu schreiben und auch das gute oder zumindest das unbekannte Deutschland zu entdecken. Dabei nutze ich auch meine Erfahrungen, in einem Staat mit komplett anderen Grundlagen aufgewachsen zu sein, um die Vorteile von Deutschland zu erläutern.

In der Beschreibung Ihres neuen Buches steht, dass man durch Ihre Perspektive sehe, wie wunderbar Deutschland ist. Ihre Meinung dazu?

Die Menschen nehmen den Inhalt meines Buches sehr unterschiedlich auf. Zum Beispiel ist es schon häufiger passiert, dass gerade ältere Menschen sich sehr aufregten und mitten in den Lesungen aufstanden. Der eine rief: „Ihr lasst euch doch alle für dumm verkaufen! Er macht sich nur lustig über die Deutschen und über Deutschland!“ Sie haben also nicht geglaubt, dass ich alles, was ich geschrieben habe, tatsächlich auch so meine. Ich glaube eh, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte.  

Wenn ich richtig informiert bin (Wikipedia), haben Sie schon seit 1990 die deutsche Staatsbürgerschaft. Und doch sagten Sie einmal, Sie blieben immer ein Ausländer, und das sei auch gut so. Warum?

Ich habe 1990 keine deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Das war auch gar nicht möglich, weil ich in die DDR ausgewandert bin. Da ich dort ein geduldeter Ausländer war, habe ich im neuen Deutschland 14 Jahre lang mit einem „Alien-Pass“ gelebt. Wir haben damit immer angegeben, dass wir Fremde sind und uns nichts angeht. Dann sollte der Fremdenpass aber eines Tages nicht verlängert werden. Das Problem hält bis heute an… ich, weiß nicht – interessiert Sie das überhaupt?  

Ja, natürlich!

Also, in Deutschland gibt es ja keine doppelte Staatsbürgerschaft. Wenn man also Deutscher werden will, muss man auf die alte Staatsbürgerschaft – bei mir also die russische – verzichten. Jetzt hatte ich aber keine russische Staatsbürgerschaft, weil ich vorher aus der Sowjetunion ausgereist bin. Ich muss also die russische Staatsbürgerschaft beantragen, um später auf sie verzichten zu können. Nun ist das jedoch ein Ding der Unmöglichkeit. Denn für die russische Staatsbürgerschaft muss man in Russland angemeldet sein, und ich habe dort keine Adresse oder nächste Verwandte. Außerdem ist es fast unmöglich, ohne triftigen Grund auf die russische Staatsangehörigkeit zu verzichten. In meinem Fall haben die deutschen Behörden eine Ausnahme gemacht und uns als Flüchtlinge anerkannt. Deswegen muss meine vorherige Staatsbürgerschaft nicht geklärt werden. Meine Kinder aber, die in Deutschland geboren sind und nie etwas mit Russland zu tun hatten, sind keine Flüchtlinge. Sie haben nach dem deutschen Recht russische Eltern. Daher sind sie nur Deutsche unter Vorbehalt. Mit 18 Jahren müssen sie sich entscheiden, ob sie die russische (die sie nicht haben) oder die deutsche Staatsbürgerschaft (die sie auch nicht haben) wollen. Meine Kinder sind jetzt 15 und 12, und bis sie 18 sind, wird sich die Rechtslage hoffentlich geändert haben. Die deutsche Politik hat also noch drei Jahre Zeit, ihre Rechtslage zu verbessern.  



Ein stilistisches Mittel Ihrer Bücher ist die Naivität als ästhetisches Verfahren. Das sieht man sehr gut an einer Erzählung über Ihre Gedanken zum Einbürgerungsbescheid in dem Buch Russendisko. Indem auf naive Art die Frage nach dem Grund der Einreise nach Deutschland mit Spaß oder Neugier beantwortet wird, werden nationalstaatliche Maßstäbe höherer Motivationen zurückgewiesen. Es handelt sich also um ein literarisches Verfahren der Kritik. Muss man Ihre Literatur auch als Kritik verstehen?

Ich wehre mich gegen den Vorwurf der Naivität!  

Ich meine es jedoch nicht als Vorwurf, im Gegenteil!

Ich nehme es aber so. Ich werde öfter damit konfrontiert, meine Werke seien „irgendwie naiv“. Sehr oft wird hierzulande irgendein tiefschürfender Stuss als unglaublich ernst wahrgenommen. Obwohl das überhaupt keine Lebensgrundlage hat, sondern eine freie Fantasie eines zum Philosophieren neigenden Menschen ist. Eine klare und nachvollziehbare Tatsache, dass Menschen beispielsweise sehr oft ohne triftigen Grund unterwegs sind, wird als naiv zurückgewiesen. Niemand aus meiner Gruppe damals wusste, warum er nach Deutschland kam. Einer, der ein wenig Deutsch konnte, sagte, er bewundere die deutsche Sprache und Kultur. Alle anderen haben das dann von ihm abgeschrieben. Man kann doch nicht im Ernst meinen, die Menschen würden umziehen, um fremde Kulturen kennenzulernen.  

Kommen wir zu einer anderen Frage. Sie haben in Moskau Dramaturgie studiert. Was nahmen Sie aus dem Studium mit für Ihren Beruf des Literaten? War es dafür überhaupt hilfreich?

Das antike Theater hat mich damals sehr interessiert. Ich lernte auch, wie wichtig die Figur des Erzählers ist. Im Grunde genommen hat nur das über Jahrhunderte Bestand, was erzählt wird – natürlich nur, wenn es spannend erzählt wird. Ich bin ein Mensch, der sehr weit entfernt ist von der Dramaturgie. Denn es gibt meines Erachtens zwei Arten von Menschen: diejenigen, die die Welt nehmen, wie sie ist, und diejenigen, die sie umbasteln wollen. Die Dramaturgie dient natürlich dem Umbasteln. Früher waren die Menschen Landwirte oder Hirten. Die Hirten haben die Welt so genommen, wie sie war. Die Tierchen aßen das Gras weg und das wuchs wieder nach. Die Hirten aßen ein paar Tierchen und die wuchsen auch wieder nach. Es hat sich an der Welt eigentlich nichts verändert. Landwirte dagegen waren immer Gottes Gegner. Sie waren Leute, die besser Bescheid wussten. Aus der Sicht eines Landwirtes taugt diese Welt gar nichts. Sie waren Menschen, die an dem Überfluss an Motiven und der Vielfalt der Welt litten. Diese ganzen Berge, Wälder und Seen. Kein Mensch braucht Seen! Man braucht Kanäle, um die Felder zu bewässern. Man braucht quadratische Felder und Kanäle, um sie zu meliorieren. Kein Mensch braucht Vergissmeinnicht! Der Mensch braucht Weizen, verstehen Sie?



Was ich hier erzähle, ist eigentlich eine biblische Geschichte. Die Geschichte von Kain und Abel. Wir wissen, wie die Geschichte zu Ende gegangen ist. Wir sind jedoch weder die Nachfahren von Kain noch von Abel. Wir stammen vom dritten Sohn Simon ab, der weder Landwirt noch Hirte war. Also steht wieder alles offen!  

Sie waren schon häufiger mit der Russendisko in Halle. Wann sind Sie denn das nächste Mal zur Russendisko da?

Na, wenn ich eingeladen werde. Ich muss sagen – und das ist jetzt wirklich keine Schleimerei –, Halle ist die beste Stadt im Osten. Ich war bei einer Lesung im Steintor, da waren über 600 Leute. Ich hatte selten das Gefühl so verstanden zu werden wie in Halle: super Stadt, super Menschen.

Hat sich Ihr Bild von der Stadt verändert?

Es kommen mehr Leute zu meinen Veranstaltungen…

Und Ihr Bild von der Stadt? Ich habe gelesen, dass Sie zu Ihrem ersten Besuch in Halle sagten, die Stadt erinnere Sie an Moskau.

Wie viele Städte hier im Osten, hat sich Halle herausgeputzt: viele Fußgängerzonen, laute und lästige Amerikaner in Steakhäusern… Ja, eigentlich hat sich nicht viel verändert.

Herr Kaminer, vielen Dank für das Gespräch.

(Nico Elste, Kulturfalter September 2012)