Geschichte hören, sehen und diskutieren
Paul Werner Wagner ist Literaturwissenschaftler, Kulturmanager und Schachfunktionär. Mit 19 Jahren wurde er wegen versuchter Republikflucht im halleschen Roten Ochsen eingesperrt und beteiligte sich im Herbst '89 an der Bürgerbewegung „Demokratischer Aufbruch“. Seit mehreren Jahren kuratiert er regelmäßig Gespräche im Forum Kultur und Politik der Friedrich Ebert Stiftung und organisiert Filmgesprächsreihen. Anlässlich seines neuen Projekts – dem Filmmontag im Puschkino „Der geteilte Himmel und die friedliche Revolution“ – sprach Kulturfalterredakteur Nico Elste mit dem gebürtigen Wolfener.
Kulturfalter: Die Filmreihe „Der geteilte Himmel und die friedliche Revolution“, die als Montagsfilm im Puschkino lief, thematisiert die Zeit vor der Wiedervereinigung. Wie haben Sie diese Wochen erlebt?
Paul Werner Wagner: Im Herbst 1989 habe ich aktiv an der Bürgerbewegung teilgenommen. Ich war im „Demokratischen Aufbruch“. In der Zeit traf ich spannende Menschen wie beispielsweise Daniela Dahn und Christoph Hein. Wir haben uns intensiv Gedanken gemacht, wie man die DDR verändern könnte. Der Name „Demokratischer Aufbruch“ war Synonym dafür, was wir schaffen wollten: eine sozialistische Demokratie in der DDR. Nach der Niederknüppelung von Demonstranten am 6. Oktober in Berlin schrieben wir in dieser Gruppe einen Protestbrief – maßgeblich Daniela Dahn. Doch hielten sich viele zurück, diesen zu unterschreiben. Aus dem nicht kirchlichen Bereich war ich der Einzige, der den offenen Brief unterschrieb. In den Kirchen wurde dieser später öffentlich verlesen. Ich persönlich verlas ihn in der Gethsemanekirche. Das war für mich ein unvergesslicher Moment. Kurze Zeit später gab es vor der Kirche eine Demonstration. An dieser nahm ich teil und die Stimmung dort, der aufrechte Gang der Menschen, das Abfallen der Angst, die man förmlich spüren konnte – das war für mich eine einzigartige und grandiose Erfahrung. Eine Vielzahl von Menschen hatten sich dort versammelt, demonstrierten für Freiheit und zeigten, dass sie sich nicht mehr alles gefallen lassen wollen. Der Mut, den die Menschen zeigten – immerhin waren sie von Polizei und Militär umzingelt und niemand wusste, ob sie eingreifen –, das imponierte mir schon sehr.
Diese Zeit nach Honeckers Ablösung bis zum Mauerfall war eine unglaubliche Zeit, in der die politische Hoffnung keimte, einen demokratischen Sozialismus in der DDR zu realisieren. Mit dem Tag des Mauerfalls jedoch war diese politische Hoffnung zunichte. Plötzlich erfasste die Menschen das Interesse, doch endlich mal nach Westberlin zu fahren. Damit war dieser demokratische Aufbruch abgebrochen. Ich habe mich immer über die Wiedervereinigung gefreut und es war ein sehr befreiendes Gefühl, als das Brandenburger Tor geöffnet wurde. Von dieser Freiheit habe ich immer geträumt und dafür habe ich mich auch immer eingesetzt. Natürlich hätte ich im September oder Oktober 1989 nicht gedacht, dass die DDR so schnell implodieren würde und wir so schnell eine deutsche Einheit bekämen. Ich hätte sie mir langsamer und gleichberechtigter gewünscht. Aber dass die deutsche Einheit gekommen ist, das begrüße ich sehr.
Sie saßen selbst als politischer Gefangener im Gefängnis in Halle, im berüchtigten „Roten Ochsen“. Ist die Filmreihe als Aufklärungsarbeit auch der regionalen Geschichte zu verstehen?
Nein, eigentlich weniger. Die Intention, die ich mit der Filmreihe im Puschkino verfolge, ist interessante Filme zu zeigen, die in irgendeiner Weise unsere Geschichte widerspiegeln. Dabei soll auch Raum gegeben werden, über Geschichte und über Selbsterlebtes zu sprechen. Natürlich zeigen wir auch Filme wie „Der Geteilte Himmel“, die in Halle spielen. Der Fokus jedoch liegt weiter als nur auf Halle und dessen regionaler Geschichte.
Vier Filme wurden in der Reihe gezeigt, den Auftakt bildete Peter Kahanes Film „Die Architekten“. Nach welchen Kriterien haben Sie diese ausgesucht?
Eigentlich sollte „Der geteilte Himmel“ den Auftakt bilden, jedoch konnte Renate Blume nicht eher. Dieser Film fängt das Drama der deutschen Teilung wunderbar auf, und das in einer Form, die ungeheuer bemerkenswert ist. Denn im Film von Konrad Wolf werden der Mauerbau und die deutsche Teilung sehr menschlich dargestellt, ohne dabei die individuellen Entscheidungen, in den Westen zu gehen, zu diskreditieren. Dafür musste sich der Film – wie Christa Wolfs Buch – auch eine Menge Kritik gefallen lassen und durfte zum Teil nicht gezeigt werden. Aber genau dieser Film, der die Trennung von Familien und Freunden durch die Mauer thematisiert, kann vielleicht einer jüngeren Generation den Hintergrund von 1989 und die Geschichte um den Mauerbau etwas näher bringen.
Teil der Veranstaltungsreihe waren Gespräche mit Regisseuren wie Andreas Dresen, Drehbuchautoren wie Eberhard Görner, Schauspielern wie Peter Sodann oder auch Wissenschaftlern wie Dr. Therese Hörnigk. Was war das Thema?
Mir liegt es sehr am Herzen in den Gesprächen einen differenzierten Blick auf die Geschichte zu werfen. Blickwinkel, die alles in schwarz und weiß, Gut und Böse unterteilen, sollten explizit nicht eingenommen werden. Ebenso wenig sollte in den Filmgesprächen die Geschichte der DDR glorifiziert oder einer Ostalgie gefrönt werden. Vielmehr sollte das, was die Menschen in der DDR und unter den damaligen Umständen geleistet haben, ernst genommen werden. Man muss den Menschen die Würde geben, die sie verdienen. Das geht nicht, wenn man die DDR nur unter dem Aspekt des „Unrechtsstaats“, SED-Diktatur oder „Zweite Diktatur nach der NS-Zeit“ betrachtet. Dagegen verwahre ich mich auch mit meiner eigenen Biografie. Weder bin ich Antikommunist noch ein Hasser der DDR. Ich habe noch viel Interessantes in der DDR erleben dürfen und hatte den Mut, auch die Freiräume zu nutzen, die es gab. Natürlich musste man sie sich erobern und benötigte dafür auch Mut. So konnte ich jedoch – mit zehn Jahren Verspätung – an der Humboldt Universität studieren, obwohl ich keinen Kniefall vor dem System gemacht habe. Im Kulturbereich habe ich dann auch meine Bestimmung gefunden, Menschen Kultur zu vermitteln und sie dafür zu interessieren.
Welche Rolle spielt Ihrer Ansicht nach die Kunst, speziell der Film, als Medium, die DDR historisch-kritisch zu reflektieren?
Kunst und Kultur sind ja nicht vordergründig Unterhaltung. Kultur vermittelt vielmehr Werte und regt zum Denken – auch zum kritischen Denken – und Hinterfragen an. Gerade dafür leistet der Film immens viel. Deswegen habe ich für die Reihe nach hochqualitativen und spannenden Filmen gesucht, die zudem auch den Blick unterschiedlicher Generationen mit einschließen. Es gibt eine ganze Reihe von Filmen, die unterschiedlichste Aspekte der DDR in den Fokus rücken. Seit 2000 habe ich eine Vielzahl von Filmreihen zu den verschiedensten Themenstellungen wie beispielsweise die Arbeitswelt oder auch das Frauenbild kuratiert. Im September 2014 kuratierte ich die 3. Wolfener Filmtage unter dem Motto „Unangepasste Jugendliche im DEFA-Film“. Gerade das – mit dem Film den Menschen zu vermitteln, wie das Leben aussah – leistet der Film meines Erachtens besser als alle anderen Medien. Einen Film kann man anschauen, deswegen ist er auch anschaulich. Wenn er gut gemacht ist, ist er darüber hinaus emotional und provoziert vielleicht auch. Filme allein zu zeigen, halte ich allerdings für nicht sehr sinnvoll. Verknüpft man sie jedoch mit einer Einführung, mit Diskussionen von Beteiligten und Gesprächsrunden, dann halte ich diese Veranstaltungen für eine sehr sinnvolle und bildungsreiche Art der Vermittlung von Geschichte.
Sie kuratieren häufig Gespräche mit historischen und politischen Größen wie beispielsweise im November 2014 mit Egon Bahr. Er war einer der führenden Mitgestalter der Ostpolitik, also der Annäherung Deutschlands an die Sowjetunion und die DDR. Braucht es heute noch eine historisch-politische Aufklärung?
Ja, davon bin ich fest überzeugt. Gerade in der Aufklärung spielt der Film verknüpft mit Gesprächen eine wichtige Rolle. Reine Diskussionen mit Historikern oder Aufklärung mittels Stasi-Akten ist natürlich wichtig. Jedoch wirkt diese Art der Aufklärung in der Öffentlichkeit meines Erachtens auch irreführend. Aus diesem Grund halte ich den Einsatz von Filmen mit guten Gesprächspartnern für viel ertragreicher. Der Erfolg gibt auch Recht. Viele Zuschauer, die die Filme besuchen, kommen danach zu mir und berichten, dass ihnen Dinge klar geworden sind oder sie ein Stück ihres eigenen Lebens wiederentdeckt haben. Wenn man Menschen dafür motivieren kann, sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, ist das doch hervorragend. Eben das will ich erreichen: ein Klima zu schaffen, in dem die Menschen neugieriger werden auf das, was war. Insofern sehe ich meinen Beitrag auch als einen für die innere Einheit Deutschlands. Und diese innere Einheit gewinnt dann, wenn das Selbstbewusstsein der Menschen aus der DDR gestärkt wird und sie ihre eigene Geschichte – in ihren Unterdrückungsmechanismen wie individuellen Freiheiten und Leistungen – annehmen können.
Haben Sie vor, die Filmreihe in Halle als dauerhafte Veranstaltung zu etablieren?
Ja, auch für nächstes Jahr sind Veranstaltungen geplant. Dabei wird auf jeden Fall auch der 50. Jahrestag des 11. Plenums eine Rolle spielen. Zu diesem Thema gab es eine ganze Reihe hochinteressanter Filme, die gar nicht erst das Licht der Welt erblickten.
Welche Beziehung haben Sie heute zu Halle?
Ich empfinde Halle als sehr spannende Stadt und bin gern hier. Wenn ich in die Stadt komme, dann denke ich jedoch nicht mehr an meine Zeit im „Roten Ochsen“. Das ist für mich abgeschlossen. Es war keine schöne Erfahrung, jedoch bin ich dort auch nicht gefoltert worden. In dieser Extremsituation habe ich vielmehr eine Menge Kraft und eine besondere Beziehung zum Schach entwickelt.
Dass Sie während Ihrer Gefangenschaft die zermürbende Zeit der Einzelhaft mit Schach überstanden haben, erinnert an Momente von Stefan Zweigs Schachnovelle…
Die kannte ich zu der Zeit tatsächlich nicht und habe sie erst später gelesen. Aber ich konnte sehr gut nachvollziehen, was mit einem passiert, wenn man von jeglicher Kommunikation abgeschnitten ist. Dabei könnte man verrückt werden. Man braucht einfach etwas, auf das man sich konzentrieren kann. Der Eine rekapituliert alle Gedichte, die er mal auswendig gelernt hat, und bei mir war es halt das Schach. Und als ich die Gelegenheit hatte, die Bibliothek zu nutzen, war es auch das Lesen. Vor allem aber half mir das Schach – und die Entdeckung Emanuel Laskers. Die besondere Persönlichkeit dieses Philosophen, Mathematikers und ersten deutschen Schachweltmeisters inspirierte mich und bestimmte auch, was ich später in meinem Leben tat: Schach spielen zum Beispiel oder auch die Gründung der Emanuel Lasker Gesellschaft… Man kann in Extremsituationen zerbrechen, wenn man darüber nachdenkt, welches Unrecht einem gerade geschieht. Dem muss man trotzen, indem man sich sagt: „Ihr bekommt mich nicht runter! Ich habe so ein reiches Innenleben und das ist mein Schutz.“
Herr Wagner, vielen Dank für das Gespräch.
Mehr Informationen über Paul Werner Wagner