Eigentlich braucht man nur einen Menschen ...

Heinrich Steinfest ist vielleicht noch nicht allen begeisterten Lesern ein Begriff. Sollte es aber sein. Wir trafen ihn anlässlich seines Werkes "Die Büglerin". Kulturfalterredakteurin Anne-Marie Holze sprach mit ihm über Freundschaft und Aufrichtigkeit.

Vor der „Büglerin“ haben Sie einige Krimis geschrieben. Ist das eine Ihrer liebsten Gattungen?

Für mich war der Kriminalroman nie eine Einschränkung auf den „normalen“ Krimi. Es gibt auch Leute, die sagen, das sind Romane. Natürlich haben sie den klassischen Figurenpart eines Krimis, es gibt einen Ermittler und einen Fall. Aber sie beinhalten auch alles das, was einen Roman ausmacht. Es ist nicht auf die reine Spannung oder Fallklärung reduziert. Mir hat das Genre zwar immer Spaß bereitet, aber ich habe es nie als Einschränkung empfunden, nur in dem Genre zu bleiben wie in einem kleinen Kabinett. Hier und da kamen aber irgendwann Geschichten, die das Genre nicht mehr brauchten. Ich habe auch manchmal am Anfang meiner Bücher nicht gewusst, ob sie sich in die Richtung eines Kriminalromans entwickeln. Diese Einteilung war für mich nie richtig ein Thema. Der Markt braucht das dann aber …

Auch in „Die Büglerin“ vermischt sich das. Das Buch fängt mit einem Mord an, den es zu klären gilt. Doch das verliert sich im Buch immer mal wieder.

Ja, es geht auch viel mehr um die Zäsur in einer Biografie. Jemand, der sich konsequent entscheidet, alles aufzugeben. Geld, Karriere, Freunde, die Stadt. Tonia fängt an, ein neues, fast nonnenhaftes Leben zu führen. Das Geschehene beschäftigt sie weiterhin, aber sie ist ja keine Ermittlerin. Sie ahnt, dass sie irgendwann in ihrem Leben wieder darauf gestoßen wird, aber sie ermittelt nicht in diesem Fall.

Wieso haben Sie ihr den Beruf „Die Büglerin“ gegeben?

Es gibt ein Bild von Picasso von 1904 aus der blauen Periode, das eine Büglerin zeigt – sehr melancholisch und düster und kalt. Außerdem ein 30 Jahre früher entstandenes Bild von Degas – in warmen Farben und lebendig. Die beiden Bilder sind völlig verschieden, ich habe sie beide in mein Notizheft hineingeklebt. Daraus entstand die moderne Büglerin, die ich dazwischen einordne, ein Substrat. Und dann kam hinzu, dass ich früher in meinen Berufen sehr viel mit haushälterischen Tätigkeiten zu tun hatte. Kinderpflege, Tierpflege, Hauspflege, Wäsche waschen, Nähen. Ich weiß nicht, warum sich das Bügeln nicht ergeben hat. Am Anfang des Buches übt auch Tonia all das aus, was mir bekannt ist. Aber warum sie sich dann auf das Bügeln konzentriert … Vielleicht wollte ich genau das haben, was ich selbst nie praktiziert habe, um so auch ein bisschen die Beobachterdistanz zu entwickeln. Das sind aber Dinge, die man sich oft im Nachhinein überlegt.

Vor dem Schreiben selbst machen Sie sich da wenig Gedanken drüber?

Beim Schreiben ist es oft ein Automatismus. Im Grunde muss ich im Buch viel imaginieren: Es wird gesegelt und Tango getanzt – nichts davon mache ich selbst. Ich bin ein schrecklicher Tänzer und bin einmal gesegelt und gekäntert. Aber das ist eine schriftstellerische Qualität zu imaginieren und sich einzufühlen. Genauso muss ich mich in die Rolle einer Frau einfügen. Als Autor sehe ich mich vorerst geschlechtslos und kann dann jeweils die Positionen meiner Figuren einnehmen; oder eines Tiers oder Gegenstands. Es gibt nichts, worüber man nicht schreiben könnte.

Das klingt ein wenig so, als hätte sich auch die Hauptfigur Tonia während des Schreibens verselbstständigt?

Auch wenn das jetzt esoterisch klingt, aber für mich ist das Romanuniversum eine Art Parallelwelt. Ich habe manchmal das Gefühl, ich kann das nur sehr bedingt steuern. Die Figuren verfügen über ein Eigenleben. Ich plane meine Geschichten nicht, es gibt keine Konstruktion, ich weiß nicht, wohin das führt oder wie es ausgeht. Ich habe am Anfang eine Idee und die Figuren entwickeln sich beim Schreiben. Ich fange mit einer Kleinigkeit an. Hier stand der Titel „Die Büglerin“ am Anfang und trotzdem glaube ich, die Figur hat sich ihn ausgesucht. Ich habe oft den Eindruck, die Personen sind per se schon vorhanden, aber stehen hinter einer Nebelwand. Während ich über sie spekuliere, treten sie immer weiter hervor. Es gibt freilich auch Figuren, die sich verweigern. Also muß ich rein in den Nebel. Bei Tonia wusste ich um ihre Tätigkeit und habe dann mit der Biografie begonnen. Manchmal habe ich eine erwachsene Figur und entwickele mich dann mit ihr zurück. Bei Tonia fing ich ganz von vorne an, mit der Geburt auf einem Boot.

 



„Das grüne Rollo“ - So heißt bereits ein Werk von Ihnen, in diesem Buch ist es der Name eines Gemüseladens. Wieso verbinden Sie die Bücher?

Das sind Dinge, die sich ein bisschen aufdrängen. Ich brauchte einen Namen für den Gemüseladen und dachte mir, ich habe ja ein Buch geschrieben, dessen Titel ganz gut passen würde. Schön symbolhaft. „Das grüne Rollo“ ist ein Roman, welcher größtenteils hinter dem Rollo spielt. In einer Fantasiewelt, einem Zwischenreich. Während „Die Büglerin“ eigentlich vor dem Rollo spielt, also in der Realität. Ich fand das stimmig. Und reizvoll für den Leser, der es kennt. In meinen Romanen kommt es immer wieder vor, dass Figuren aus anderen Büchern erneut auftauchen. Am Ende diesen Romanes tritt der einarmige Chinese auf, der ja einige meiner Bücher frequentiert. Mein nächster Roman wird nun genau mit dieser letzten Szene auf der Strandterrasse beginnen. Keine Fortsetzung, nur eine Überlappung. Wie hier ein Buch, die Büglerin, den Stab an das nächste Buch, den neuen Cheng-Roman, weitergibt.

Entscheiden das die Figuren auch selbst, dass sie wieder auftreten wollen? Lassen sie Sie nicht los?

Ich bin mir da so unsicher, wie solche Prozesse ablaufen. Mitunter ging es mir einige Male so, dass Figuren noch ein Stück weit unzufrieden waren. Ich habe eine Figur gehabt, einen Ermittler, Inspektor Lukastik, dessen Liebesverhältnis zu seiner Schwester ich beschrieben habe. Ein nicht ganz einfaches Thema. Ich hatte danach den Eindruck, dass die Darstellung vielleicht nicht ernsthaft genug war. In der Mitte eines anderen Romans kam dann diese Figur zurück (wie aus einer Pause) und hat mir die Möglichkeit gegeben, die Beziehung zu seiner Schwester noch einmal aufzurollen und besser zu beschreiben. Aber natürlich sind das nicht alles gänzlich irrationale, unbewusste Prozesse. Ich lasse es ja auch zu oder sage manchmal, die Person lasse ich nicht wieder in die Geschichte. Aber es ist schon ein Interagieren mit der Figur. Ich mag das Spiel auf Metaebenen gern. Das ist auch ein Spiel mit der Realität. Das Erleben wir tagtäglich durch den Traum. Das ist eine Welt, in der wir schließlich ebenfalls existieren. Sie kann nicht rein fiktiv sein, denn wenn wir träumen, ist sie doch ungemein real.

Ich markiere sonst nie in Büchern oder schreibe hinein. Bei Ihrem Buch musste ich das tun, weil ich viele Aussagen so schön oder wichtig fand, dass ich darüber nachgedacht habe. Ein Zitat: „Ein Buch tut im Kopf eines Lesers mehr als jeder Autor sich erträumen oder wovor er sich fürchten mag.“

Alles wird hier aus dem Mund der Figuren gesagt. Das bietet mir die Möglichkeit, verschiedene Gedankengänge durchzuspinnen, die auch nicht meine eigenen sein müssen. Natürlich nicht. Es wäre ja öde, immer nur den Erzähler sprechen zu hören. Nein, wir vernehmen viele Stimmen im Roman. Es ist aber weniger ein Chor als eine große Zahl von Solisten. Dieses Zitat nun bezieht sich darauf, dass in jedem Leser ein eigenes Buch entsteht. Das somit fortlaufend eine neue Interpretation des Textes entsteht. Wie bei einer Verfilmung, oder auch bereits im Hörbuch. Es erfolgt eine Interpretation des Textes, die nicht immer mit der Vorstellung des Autors einhergehen muß. Das macht sie aber nicht unbedingt falsch. In jedem Buch steckt das Potential, in unterschiedlichen Färbungen verarbeitet zu werden. Würden Leser Porträtzeichnungen von Hauptfiguren anfertigen, sie wären wohl alle recht unterschiedlich, aber keine falsch. In dem Moment, in dem der Text solche Bilder evoziert, sind sie wahr. Traurig ist nur, wenn gar kein Bild entsteht. Aber es können möglicherweise Bilder hervorgehen, bei denen ein Autor erschrecken würde. Darüber, wie sehr sein Buch auch ganz extreme Gedanken auszulösen vermag, die in eine ganze andere Richtung gehen, als es gemeint war.



Eine weitere Stelle wäre: „Lesen ist die zwangsläufige Leidenschaft der Verlorenen.“

Das ist auch eine radikale Anschauung des Mannes, der hier über sein Leben spricht und zurückblickt. Er hat während der Jugend aufgrund eines psychosomatischen Phänomens im Rollstuhl gesessen. Das wird dann durch krankhaft starkes Schwitzen ersetzt. Und dann meint er, dass Literatur eine Fluchtmöglichkeit bedeutet. Bei Computerspielen wird diese Weltflucht beklagt, bei der Literatur aber nicht. Manche flüchten sich auch von einem Buch in das nächste. Das heißt nicht, dass jeder Mensch, der Bücher liest, ein verzweifelter Mensch ist und sein Leben nicht zu schätzen weiß. Aber im Moment einer Verzweiflung ist ein Buch, das genau diese Verzweiflung zu beschreiben versteht, sehr wertvoll. Man liest das, was einem ähnlich ist. Mir hat in meiner Jugend Kafka geholfen. Nicht weil er so schöne Sachen schreibt, sondern weil er Probleme in Worte fasst und dank dieser „Fassung" erträglich macht. Solch eine große Verzweiflung hat mich zur Literatur gebracht. Für mich ist Literatur weniger Ratgeber als Trostspender. Ich sehe Romane nicht als Lebenshilfe, sondern als Erleichterung. Eine spezielle Form der Therapie. Sich Dingen über das Fiktive anzunähern und dadurch in ein neues Verhältnis zu ihnen zu treten. Aber daneben gibt es auch, und das ist genauso legitim, die pure Weltflucht in andere Sphären. Was könnte unser Leben besser widerspiegeln als die Flucht?

Man kann sich dadurch verstanden fühlen, ohne dass man sich mit jemanden auseinander setzen muss, außer sich selbst.

Mir hat es oft gut getan, wenn Leser kamen, die meinten, mein Buch hätte ihnen geholfen. Ich weiß manchmal gar nicht, was es war. Es steht ja nicht drin, wie man sein Leben besser gestaltet. Aber sie meinten wohl, es sei einfach das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt gewesen. Was man sich ja für jedes Buch und jeden Leser wünscht. Dass sie zusammenkommen.

In „Die Büglerin“ geht es auch essentiell um Freundschaft. Wie würden Sie diese beschreiben?

Im Buch ist die Freundschaft eine Form von Partnerschaft. Es ist von Anfang an klar, dass es eine Freundschaft bleiben soll. Sie tun sich am Anfang auch schwer mit den Begriffen und es ergibt sich dabei eine gewisse Komik, dass sie immer erklären müssen, ein Freundespaar und kein Ehepaar zu sein. Weil bei den Menschen ja immer was dahinter stecken muss. Gleichzeitig ist es auch ein intimes Verhältnis. Es geht sehr viel um Verlässlichkeit. Es geht um Treue. Treue und Freundschaft zwischen einem erwachsenen Mann und einer erwachsenen Frau. Das hat mich interessiert: Wie funktioniert das? Das funktioniert nur, wenn man sich an die Spielregeln hält. Beim Schreiben ist mir nicht klar geworden, ob sich der Held der Geschichte eigentlich wirklich immer an die Spielregeln halten möchte. Aber er tut es.

Was bedeutet Freundschaft für Sie persönlich?

Letztlich brauchen wir alle Freundschaft. Ich glaube, es reicht ein Mensch. Wenn wir alle einen Menschen haben, einen wirklich wahrhaften Freund, reicht das aus. Streiten darf man trotzdem. Aber von einem Freund wendet man sich nicht ab. Indem man dem Freund nahe ist, bewältigt man das eigene Trauma von der Einsamkeit Eine Freundschaft wird immer auch Brüche haben, natürlich, aber wahrscheinlich besteht die Kunst der Freundschaft im Umgang mit den Brüchen.

Ist der Unterschied zwischen Freundschaft und Paarbeziehung nur rein körperlich?

Nein. Freundschaft ist auch das, wonach wir in einer Partnerbeziehung streben. So schwierig das zu sein scheint, möglich ist’s auf jeden Fall und höchst erstrebenswert. – Die Menschen haben eine unglaubliche Toleranz gegenüber ihren Tieren, die sie nicht immer gegenüber ihrem Partner haben. Da entwickelt sich sogar teilweise mit der Zeit ein Ekel: Wie der schon isst! Wie der schnarcht! Wie die sich schminkt! Das empfinden wir bei Tieren oder Kindern nicht. Die finden wir nicht irgendwann hässlich oder enervierend. Na, vielleicht sollten wir uns unsere Lebenspartner als Tiere oder Kinder denken.