Dann mach es halt!

Alexander Osang wuchs in der DDR auf und absolvierte eine Berufsausbildung mit Abitur zum Instandhaltungsmechaniker. Weil er unbedingt reisen wollte, entschloss er sich, Sportreporter zu werden, und studierte Journalistik. Dann fiel die Mauer, und bei der Berliner Zeitung wurde unbelastetes Personal gesucht. Osang wurde Lokalchef. In den folgenden Jahren avancierte er zu einem Berichterstatter über die ostdeutschen Zustände nach der Wiedervereinigung. Schließlich ging er für den Spiegel nach New York und begann eine Karriere als Buchautor. Seit März 2018 lebt er mit seiner Frau, die als Israel-Korrespondentin der Berliner Zeitung arbeitet, in Tel Aviv. Zuletzt erschien sein Buch „Die Leben der Elena Silber“. Ein Roman quer durch das letzte Jahrhundert mit biografischen Bezügen Osangs. Kulturfalter-Redakteur Martin Große traf den Autor nach einer Lesung in Halle.

Kulturfalter: Sie haben Instandhaltungsmechaniker in Neubrandenburg gelernt und wandten sich dann dem Journalismus zu. Woran haben Sie gemerkt, dass Sie schreiben können?
Alexander Osang: Ich habe schon als Junge viel geschrieben. Ich wollte unbedingt Sportreporter werden, weil ich dachte, dass dies ein Weg war, die Welt zu sehen.  Ich wollte reisen. Der einzige Weg, der mir logisch schien, und weil ich auch selber Athlet war, war Sportreporter zu werden. Ich habe mich während des Studiums bei „Sport Aktuell“, der Sportsendung des DDR-Fernsehens, beworben. Doch dann fiel die Mauer, und die Notwendigkeit bestand nicht mehr. Ich schreibe aber noch immer gerne über Sport.

Sie gingen einige Jahre später als Reporter für den Spiegel in New York. Wie muss man sich das vorstellen, was macht man da?
Am Anfang wird einem von der Redaktion gesagt ‚Schreibe mal bitte dies‘ oder ‚Geh mal dem anderen Thema nach‘, und dann schlägt man selber Themen vor. Die Arbeit bewegt sich in Wellen, je nachdem was los ist. Jetzt zum Beispiel bin ich in Israel. Da waren gerade Wahlen und der Euro Vision Songcontest, so gab es viel zu berichten. In New York gab den 11.9.2001, da berichtete ich extrem viel, und dann wird es wieder ruhiger. Aber man schreibt selten mehr als eine Reportage pro Monat.

Ihr Buch „Die Nachrichten“ wurde verfilmt. Sie haben auch das Drehbuch geschrieben. Waren Sie da auch beim Dreh dabei?
Das war eine einmalige Erfahrung. Und das mache ich, glaube ich, auch nicht noch mal. Es war eine tolle Erfahrung, im Stoff zurückzugehen und im Team zu arbeiten. Aber nicht noch mal. Das Schreiben war ein längerer Prozess. Es gab verschiedene Phasen, Entwürfe und Wünsche des Regisseurs. Dann kam der Produzent nach New York, und wir haben die Endfassung geschrieben. Später wurde ich zu den Dreharbeiten eingeladen, doch am Set hat man als Autor nichts mehr verloren. Es ändert sich beim Dreh ständig was, aber da muss dann loslassen können. Es ist die Aufgabe des Regisseurs vor Ort, Änderungen zu machen. Ich habe sogar einen kleinen Auftritt im Film, der nicht geplant war.



Ihr aktuelles Buch „Die Leben der Elena Silber“ hat autobiografische Bezüge und ist ein Roman quer durch das letzte Jahrhundert. Wie kam Ihnen die Idee zu diesem Buch?
Die Geschichte und ihre Entstehung haben viel mit meiner Oma zu tun. Diese ist 1905 geboren, und sie hat manchmal ihre Geschichten erzählt. Die klangen für mich alle wie russische Märchen. Für mich war sie einfach die Oma mit dem starken russischen Akzent. Erst viel später habe ich begriffen, was für ein Wahnsinnsleben sie gehabt haben muss. Gleichzeitig ist mir klar geworden, dass sie viele „Dämonen“ hat, Sachen, über die sie nicht redet, über die niemand redet in der Familie. Mir wurde bewusst, dass diese Dämonen weitergereicht werden. Diese Traumata oder Verwerfungen erreichen meine Generation, über viele Umwege meine Kinder - und vielleicht ist es bei meinen Enkeln vorbei. Wer weiß? So entstand die Idee, einen, nicht meinen, Familienroman zu schreiben. Das ist aber schwierig. Denn erstens ist es ein Riesenstoff, der sich über ein ganzes Jahrhundert zieht, und zweitens dachten meine Tanten und Onkel – alle, dass sie eine Rolle in dem Roman spielen. Das machte es kompliziert. Irgendwann war es aber für alle o.k., als sie begriffen, dass sie eben nicht die Person aus dem Roman sind, und dann habe ich angefangen. Ich war als erster meiner Familie in dieser russischen Kleinstadt, aus der meine Oma stammt. Ich wollte wissen, wie es dort im Sommer und im Winter ist, wie sieht die Landschaft aus. Ja!, und dann fing ich an …

Wie lange haben Sie an dem Buch geschrieben?
Sehr lange. Ich hab die ersten 100 Seiten geschrieben, und es entstand ein Roadmovie voller Widersprüche. Ich wollte aber ein Buch, das dichter dran, das schmerzhafter ist. Das war vor drei Jahren. Dann habe ich von vorne angefangen. Ich habe einen Supervertrag mit dem Spiegel, der es mir erlaubt, drei Monate im Jahr frei zuschreiben. Im letzten Jahr habe ich in allen Freizeiten daran geschrieben. Ich lebte in diesem Buch. Im Januar 2019 war es dann fertig.

Im Buch kommen viele verschiedene Orte vor. Haben Sie die alle besucht? Was hat Sie besonders interessiert bei den Recherchen?
Ich habe auch viel mit meinen Angehörigen gesprochen. Dabei haben mich aber weniger die einzelnen Geschichten und Erinnerungen interessiert, sondern, was für eine Dynamik in einer Familie steckt. Jeder sieht Dinge anders. Jeder erinnert sich an andere Sachen. Die einen sind distanziert ihrer Familie gegenüber, für andere ist die Familie ein Fundament, auf dem sie ihr Leben aufbauen. So entstehen Geschichten, alle unterscheiden sich – diese Vorgänge, wie das passiert, das hat mich interessiert. Ich habe viele Orte besucht, die im Buch eine Rolle spielen und wo manchmal auch meine Familie gelebt hat. Das war, um eine Oberfläche zu haben, auf der die Geschichte spielen kann.

Haben Sie Aufzeichnungen, Tagebücher, Fotoalben Ihrer Großmutter nutzen können?
Im Buch lernt der Leser Elena als junges Mädchen kennen. Sie erfahren alles über ihre erste Liebe und viele Details. Da war schon klar, dass meine Familie da raus ist und dass das alles Fiktion ist. Elena hat nichts mit meiner Großmutter zu tun. Aber offizielle Aufzeichnungen und amtliche Meldungen aus der Region, Wetterberichte oder Kinoprogramme habe ich für die Recherchen nutzen können. Einfach um ein Gefühl für die Zeit zu bekommen. Die Urkunden, Briefe, Protokolle und Dokumente aus Archiven habe ich gelesen, um die Chemie in der Familie rauszubekommen.


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Haben denn die Hauptfiguren wie Konstantin und andere Charaktere Anleihen aus der Realität?
Der Stammbaum ist meiner Familie nicht unähnlich. Aber der Rest ist dann schon ein Konstrukt. Konstantins Mutter, diese unglückliche Alkoholikerin, ist nicht meine Mutter. Konstantin bin nicht ich. Konstantin ist jünger, er hat ein ganz anderes Temperament, eine andere Biografie. Trotzdem ist er mein ‚Alter Ego‘.

Mussten Sie Ihre Familie vom Buch überzeugen?
Das war schon ein Stückchen Arbeit. Ich habe meiner Mutter etwas zu lesen gegeben. Nachdem sie durch war, war sie überzeugt, dass es nicht sie ist, über die da geschrieben wird. Schließlich meinte sie „Dann mach es halt!“

Sie sagten, Ihre Großmutter war ihr Leben lang eine Fremde ohne eigene Heimat. Sie selber wohnten in New York und jetzt in Israel. Haben Sie das gemeinsam mit Ihrer Großmutter?  Das In-der-Fremde-Leben?
Darüber habe ich nicht viel mit ihr gesprochen. Ich kann das nur vermuten.  Bei der Großmutter im Roman ist das natürlich so. Und was man in die Romanfigur reininterpretiert, kommt viel von einem selber. Ich bin oft ein Fremder und bin immer wieder fremd. In New York, in Berlin oder in Israel. Das Gefühl ist mir nicht unvertraut. Es kann produktiv sein. Ratlosigkeit hilft. Hilflosigkeit hilft. Man sollte immer beim Recherchieren haben. Die Leute sind nicht offen und Fragen stellen.

Jede Familie hat ihre Geschichten, die erzählt werden. Gibt es etwas, was sich nach den Recherchen als völlig anders herausstellte?
Es gab ein paar Kleinigkeiten, die ich nicht wusste, aber es war nicht mein Ziel, Familiengeheimnisse aufzudecken. Mein Ziel bei den Recherchen war Landschaften, Städte und Zeiten herauszufinden. Mich da beim Schreiben sicher zu fühlen. Das zweite Ziel war, Familienstrukturen kennenzulernen. Wie erinnert man sich? Wie entstehen Spannungen oder Erinnerungsmuster. Das war überraschend für mich, dass Angehörige an Ereignisse komplett andere Erinnerungen haben. Das fand ich toll, das spielt eine wichtige Rolle.

Wissen Sie nach dem Buch mehr über sich?
Ein bisschen mehr weiß ich über mich, über meine Nöte, Sorgen und Dämonen. Ich habe ein bisschen gelernt, wo die Dinge, die in mir toben, herkommen.

Wenn Ihre Kinder den Roman lesen, bekommen sie eine Einführung oder einen Begleitband zum Buch?
Meine Kinder lesen meine Bücher. Nicht jedes Kind liest alles. Meine Tochter, die ist jetzt 21, sie hat das Buch gelesen, und ich glaube schon, dass sie einen anderen Blick auf ihre Familie bekommt. Ihr ist klar, dass das im Buch nicht ihre Oma ist. Aber sie kriegt ein Gefühl dafür, wer wir sind und wo wir herkommen. Und was unsere Probleme sind. Und sie stellt auch Fragen.

Herr Osang, vielen Dank für das Gespräch.