Es war Freiheit, aber eigentlich herrschte Anarchie.
Eine Ausstellung im Kunstforum Halle widmet sich der Zeit kurz nach der friedlichen Revolution in der DDR. Gezeigt werden Fotografien von Markus Werner, welche eindrucksvoll intime Momente jener "wilden" Zeit eingefangen haben. Kulturfalter sprach mit dem Fotografen über seine Ausstellung "Zeit der großen Freiheit".
Kulturfalter: Wie haben Sie die „Zeit der großen Freiheit“ empfunden?
Um dies zu beantworten, muss man die Zeit vor der Wende betrachten. Ich bin ja nicht aufgewacht und plötzlich ist die Mauer weg gewesen. Es hatte sich ja schon vorher abgezeichnet, dass sich etwas verändert. Auf jeden Fall war es eine extrem spannende Zeit.
Wie haben Sie die Wendezeit erlebt?
Ich musste mich vor der Wende verstecken, weil ich dem Einberufungsbefehl nicht nachgekommen bin – war fahnenflüchtig sozusagen. Aus diesem Grund habe ich auch einige Zeit in Halle, wo meine Familie herstammte, gelebt, so ungefähr von Sommer bis Oktober 1989. Den Tag der Wende selbst habe ich verschlafen. Wieder in Berlin habe ich direkt an der Mauer, in der Nähe des Übergangs Bornholmer Straße, gewohnt. Just am 9. November war ich aber mit einem Freund unterwegs und ging etwas angetrunken früh zu Bett. Den Trubel vor meiner Tür habe ich gar nicht mitbekommen.
Mit dem Mauerfall änderte sich für die Menschen plötzlich alles. Wie empfanden Sie die Veränderungen, welche die Wende mit sich brachte?
Für mich und die Menschen in meinem Freundeskreis war die Zeit danach nur extrem. Es war Freiheit, aber eigentlich herrschte Anarchie. Die ganzen staatlichen Institutionen haben nicht mehr gegriffen und funktioniert. Was ich besonders wahrgenommen habe, ist die Ohnmacht der Polizei in jenen ersten Monaten. So mussten wir uns leider Gottes auch mit Nazis rumschlagen. Es gab ein regelrechtes Machtvakuum und dieses haben die Linken und die Rechten zu füllen versucht. Gefühlt gab es nur diese zwei Linien. Das war eine Zeit, die ich nicht vermisse, weil es extrem harte Auseinandersetzungen gegeben hat.
Gibt es noch andere Auswirkungen, an die Sie sich zurückerinnern?
Natürlich auch die Freiheit, dass man machen konnte, was man wollte. Zum Beispiel dass man keinen Führerschein brauchte, dass man sich ein Auto gekauft hat und dieses nicht mal anmeldete – es hat keinen interessiert. Das haben wir ausgiebig erlebt und gelebt, auch indem wir Kneipen aufgemacht haben, Häuser besetzten und so weiter. Insgesamt war dies aber nur so die ersten ein- bis anderthalb Jahre nach der Wende, da beruhigte sich die Lage, die staatlichen Institutionen griffen wieder.
Ihre Ausstellung umfasst ja den Zeitraum von 1989 bis 1997. Was macht „die große Freiheit“ in diesen Jahren für Sie aus?
Für mich ist dies die große Freiheit, weil man nicht den Druck hatte, den es heute gibt. Also dieses Suchen, was möchte ich mit meinem Leben erreichen und anfangen – dies war nicht so klar ausdefiniert. Ich sehe dies bei meinem eigenen Sohn, dem ich mitunter auch schon mal Druck mache, dass er studiert und so weiter. Und dann denke ich: „Wow, wir hatten damals so viel Zeit.“ Wir haben niemals über Miete, Versicherung und Auto nachgedacht – man konnte ohne Geld Leben. Ich denke, das war schon eine große Freiheit.
Wie kamen Sie darauf, die Zeit zu fotografisch dokumentieren?
Nach der Wende konnte ich endlich das machen, was ich wollte. Und das war eben fotografieren. Und wie das so ist, beginnt man erst einmal sich in seinem nächsten Umfeld auszuprobieren. Deshalb habe ich in erster Linie meinen Bekannten- und Freundeskreis fotografiert.
Viele Bilder wirken leicht depressiv, leicht melancholisch, besitzen eine Zeitlosigkeit, die inzwischen so etwas wie ein Markenzeichen von mir geworden ist. Und natürlich wollte ich eine Zeit dokumentieren. So sahen wir aus, so waren wir. Aber es ist auch mein melancholischer Blick auf meine Umgebung.
Was haben die Freunde damals gesagt, dass Sie diese dokumentiert haben? Waren die damals alle damit einverstanden?
Ja. Ich hatte immer meine Kamera dabeigehabt und ich habe immer fotografiert. Das wussten alle und den Leuten war das egal. Deshalb sind die Bilder auch so ehrlich und authentisch, finde ich. Es waren ja keine Shootings, sondern ich war immer Teil von dem was gerade passierte – sei es jetzt eine Party oder ein Gespräch oder Treffen mit Freunden. Deswegen sind ja viele Fotos handwerklich nicht ganz perfekt, nicht richtig ausgeleuchtet oder unscharf. Sie sind mitunter sehr spontan entstanden, und ich glaube dies macht die Bilder auch so authentisch.
Meinen Sie eine solche Bilderserie wäre heute auch noch möglich?
Ich glaube nicht. Erstens leben die Bilder von der beschriebenen Zeit, in der sie entstanden sind. Zweitens wird heutzutage die Frage des Persönlichkeitsrechts, welches die Leute für sich in Anspruch nehmen, völlig anders bewertet.
Inwieweit?
Meine Meinung dazu ist, dass dies missbraucht wird. Früher gab es diese Art von Hysterie gar nicht. Es gibt dieses Beispiel, wo Menschen alles bei Facebook posten, aber wenn sie auf der Straße fotografiert werden, total hysterisch darauf reagieren und die Polizei rufen. Das habe ich persönlich auch schon erlebt. Gefühlt, kann man so eine Art von Dokumentation deshalb gar nicht mehr machen. Früher war das alles kein Thema.
Was bedeutet für Sie die Fotografie?
Das ist für mich die Möglichkeit, mich auszudrücken. Und dazu noch eine einfache, denn ich konnte nie Zeichnen oder war anderweitig künstlerisch begabt. Und dann kam noch Glück dazu, denn ich hatte einen sehr guten Freund, der in der Berliner Fotografenszene etabliert war. Mit ihm bin losgezogen und konnte mir am Anfang einiges abgucken und lernen.
Was versprechen Sie sich von dieser Ausstellung?
Das Interessante an dieser Ausstellung ist, dass ich mit dieser Ausstellung letztendlich so viel privat von mir preisgebe, wie noch nie. Ich denke manchmal, wenn jemand wissen will, wie ich, Markus Werner, bin, dann soll er sich die Ausstellung ansehen. Sicherlich sieht der Betrachter in erster Linie das Motiv. Aber man darf nicht vergessen: Ich als Fotograf zeige damit auch etwas von mir. Ich drücke mich in diesen Bildern aus, es ist mein Blick auf jene Zeit.