Der Fotograf Daniel Schweitzer über sein Bild- und Buchprojekt "Heimat Neustadt"

Daniel Schweitzer wurde 1972 in Halle-Neustadt geboren und verbrachte dort eine glückliche Kindheit. Nach Abschluss seiner Ausbilung zum Fotografen ging er im Jahr 2003 nach London, um dort als Fotograf Fuß zu fassen. Seine anhaltende Ausdauer, gepaart mit Ehrgeiz, verhalf ihm zu seinem beruflichen Erfolg. Heute besitzt er zusammen mit zwei Kollegen ein eigenes Studio in London. Kulturfalterredakteurin Joanne Heider traf den Fotografen im Neustadt Centrum Halle und sprach mit ihm über sein Fotoprojekt anlässlich des 50-jährigen Jubiläums von Halle-Neustadt.

Kulturfalter: Wie sind Sie eigentlich zur Fotografie gekommen?

Daniel Schweitzer: Ich denke, die Anfänge liegen in meiner Schulzeit. Zu DDR-Zeiten gab es in unserer Schule eine Foto-AG, in der ich Mitglied war. Dort habe ich meine ersten Film-, Dunkelkammer- bzw. Fotografieerfahrungen gesammelt.

Und was ist es genau, das Sie an der Fotografie fasziniert?

Es gibt viele Dinge, die mich daran faszinieren. Zum Beispiel der Zeit-Aspekt. Sieht man sich Fotos von vor 100 Jahren an, so sehen diese immer toll aus. Ich finde es toll, dass Fotos altern und dadurch schöner werden. Außerdem halte ich die Fotografie als Ausdrucksform für ein klasse Medium, mit welchem man die Möglichkeit hat, seine Sicht der Dinge zu zeigen. Außerdem kann man durch die Fotografie die Essenz, die Seele von Menschen und Dingen rüberbringen.

Wenn Sie sich selbst einschätzen müssten, welcher Typ Fotograf Sie sind: Sind sie mehr ein Moment-Einfänger oder eher ein Inszenierer Ihrer Fotomotive?

Hauptsächlich bewege ich mich ja in der Portrait- und Sachfotografie. Ich denke, dass jedes Objekt eine Seele hat, welche ich versuche einzufangen. Ich versuche mich den Dingen oder Menschen auf meine eigene Art zu nähern und ihre Quintessenz durch meine Fotografie rüberzubringen.

Ich konnte in Erfahrung bringen, dass Sie derzeit in London wohnhaft sind. Wann und wieso sind Sie nach London gegangen?

Nach meiner Ausbildung zum Fotografen, welche ich mit über 30 abgeschlossen habe, bekam ich ein Stipendium und bin 2003 als junger Fotograf mit vielen Träumen und Ideen nach London gegangen. Dort habe ich erst assistiert, konnte mich glücklicherweise etablieren und genügend Geld verdienen, um mich dort über Wasser zu halten. Daraus sind jetzt elf Jahre geworden. Zum Schluss hatte ich meine eigene Firma. Es ist eine schöne Erfahrung, in London zu leben. Im Moment ist das aber auch etwas, das am Abklingen ist.

Wie sieht Ihre berufliche Tätigkeit in London konkret aus?

Ich habe dort ein eigenes Studio mit englischen und polnischen Kollegen. Wir haben zwei Leute angestellt und fotografieren zu 80% Sachfotografie für viele Werbekunden sowie für viele Magazine und Sachzeitungen, wie z.B. Elle Decoration, Cosmopolitan und Times. Das klingt erstmal ein bisschen glamorous, aber ist nach den vielen Jahren doch auch ein Job wie jeder andere. Man kommt frühs um 8.00 Uhr ins Studio und geht oft erst abends gegen 19.00 Uhr wieder raus. Es ist also ein sehr harter Arbeitstag. Wobei ich auch gern andere Dinge machen würde, für die mir leider oftmals die Zeit fehlt.

Und was meinen Sie, wie sie es schaffen konnten, sich auf dem internationalen Markt, insbesondere in London, durchzusetzen?

Das ist eine gute Frage. Ich denke, dass ich viel Glück hatte. Zudem bin ich ein Mensch, der sehr kommunikativ ist. Wenn ich ein Ziel oder eine Vision habe, habe ich gelernt, dahinzulaufen, egal was es kostet. Ich habe mich durchgesetzt, indem ich während meiner Zeit als Assistent – mein Englisch war zu der Zeit total miserabel (lacht) – die Leute immer und immer wieder angerufen habe, bis ich schließlich bei ihnen arbeiten konnte. Das hat manchmal bis zu 10 Anrufe gedauert, aber ich habe mich davon nicht abschrecken lassen, weil ich wusste, dass sie viel zu tun haben. Ich wollte bei denen reinkommen und da sie mich nicht kannten, wollte ich ihnen im Gedächtnis bleiben. Diese ständige Ausdauer und der Ehrgeiz spielen dabei auch eine große Rolle.

Denken Sie, dass es ein generelles Erfolgsgeheimnis gibt, um als Fotograf erfolgreich zu werden, oder denken Sie, dass jeder seinen individuellen Weg finden muss?

Ich denke, dass es eine allgemeine Erfolgsformel sicher nicht geben wird. Ich habe viele Leute kennengelernt, die tolle Fotos machen und denken, dass sie dadurch erfolgreich werden. Das kann in Ausnahmefällen funktionieren. Normalerweise jedoch braucht man Kunden, zu welchen erstmal eine Vertrauensbasis aufgebaut werden muss. Man muss die Leute erst einmal kennenlernen und beweisen, dass man unter Druck und Stress arbeiten kann. Wenn man ein Budget von 50-100.000 Pfund für eine Geschichte hat, an der 10-15 Leute mitarbeiten, muss man flexibel sein und eine gewisse Tiefe haben, um auf verschiedene Situationen reagieren zu können. Man muss optimistisch bleiben und fähig sein, mit verschiedensten Charakteren umzugehen. Es kommen eine Menge verschiedenster fachlicher und menschlicher Kompetenzen zusammen.

Waren Sie extra für die Ausstellung aus London angereist oder planen Sie noch weitere Projekte in Deutschland?

Das ist wiederum eine gute Frage, die ich nicht mit Ja oder Nein beantworten kann. Wie ich bereits vorhin angedeutet habe, verabschiede ich mich etwas aus London. Ich habe gemerkt, dass dieser ganze Konsum, dem man in London leicht verfällt, nicht mehr so meins ist. Ich war ein Jahr in Asien, wobei sich meine Weltsicht verschoben hat. Ich könnte mir sehr gut vorstellen – wo genau, ob in Portugal, Deutschland oder England, weiß ich noch nicht – auf einer Farm zu leben, mein Gemüse anzubauen und dann ab und an Fotoprojekte zu machen. Aber ich muss jetzt nicht ständig in London in der Großstadt bleiben.

Haben Sie in Asien auch als Fotograf gearbeitet?

Ich bin dort, wie sagt man so schön, auf Selbstsuche gegangen. Ich habe in Klöstern gelebt, buddhistischen Nonnen Englisch beigebracht und unter anderem auch 15.000 Fotos gemacht. Diese sind an eine Hamburger Agentur gekommen, die diese auch verkauft.

Kommen wir einmal konkreter zu Ihrem Projekt. Was hat Sie dazu bewegt, das Projekt „Heimat Neustadt“ ins Leben zu rufen?

Viele Leute halten mich für verrückt. Ich kann mir echt vorstellen, nachdem ich elf Jahre in London gelebt habe, wieder zurück nach Halle-Neustadt zu ziehen. Ich wurde hier 1972 geboren, habe eine tolle, glückliche Kindheit verlebt und finde Neustadt genauso wie London im Moment sehr spannend. In dem Stadtteil, in dem ich in London momentan wohne, kommen mir viele Dinge sehr ähnlich vor. Beispielsweise gibt es in Neustadt viele Ausländer, was ich sehr, sehr interessant finde. Die Mieten sind sehr preiswert, den Lebensstandard von Halle-Neustadt und London kann man jedoch nicht vergleichen. Aber wenn man nicht diesen ganzen Trubel möchte, den man in London hat, kann man in Halle sehr gut leben. Das kann ich mir unter anderem auch gut vorstellen.



Und was genau ist die Idee hinter Ihrer Ausstellung?

Also die Portraits sind im Rahmen eines Buchprojektes entstanden. Anfang 2014 habe ich mir gesagt: „Daniel, du liebst Halle-Neustadt. Du hast schon einmal angefangen Fotos von Neustadt zu machen, hattest aber nie Zeit, die Projekte wegen deines Jobs zu beenden.“ Was hätte sich da besser anbieten können, als zur 50-Jahr-Feier ein Buch herauszubringen. Ich habe Leute aufgerufen und angesprochen, mit mir ihre Geschichten und Erfahrungen bezüglich ihrer Verbindung zu Halle-Neustadt zu teilen. Das Buch heißt „Heimat Neustadt“ und die Portraitausstellung soll ein Bild der Neustädter von heute vermitteln. Ich habe viele Kinder fotografiert. Leider konnte ich viele Portraits von Jugendlichen nicht ausstellen, weil diese mir die Genehmigung ihrer Eltern, welche ich ihnen mitgab, nicht zurückgebracht haben. Das finde ich ein bisschen schade. Aber ich denke, dass die Ausstellung verschiedenste Neustädter verschiedener Generationen repräsentiert.

Sie haben es ja eben bereits angedeutet: Für die Erstellung Ihres Projektes haben Sie die Menschen einfach auf der Straße angesprochen?

Ich hatte Artikel im Radio, in der Zeitung und im Halle-TV und habe die Neustädter aufgerufen, da ich ja ein Buch für sie machen wollte, mir ihre Geschichten zu erzählen. So ähnlich wie das die MZ auch gemacht hat.

Wie viel Zeit hat der Erstellungsprozess in Anspruch genommen?

Die Ausstellungsfotos habe ich Ende März, Anfang April 2014 gemacht. Das Buch war Mitte Mai in der Abschlussphase. Insgesamt hat der Prozess von Anfang Februar bis Juni 2014 gedauert. Das Buch ist Ende Mai rausgekommen.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Menschen für Ihr Projekt ausgewählt?

Da gb es fast keine Kriterien. Mir war es nur wichtig, dass die Leute in Halle-Neustadt leben. Die Ausstellung heißt ja „Neustädter Gesichter“, weshalb das das Hauptkriterium war.

Also konnte jeder, der sich gemeldet hat, an Ihrem Projekt teilnehmen?

Ich habe ca. 150 Menschen fotografiert. In der Ausstellung hingen 27 Bilder, auf denen ca. 35 Menschen abgebildet waren. Teilweise hatten wir Sachen bei unserer Facebook-Seite „Heimat Neustadt“, auf der Internetseite wirsindneustadt.de und halleneustadt.de. Dann habe ich geguckt, wer am aussagekräftigsten ist und Neustadt am besten repräsentiert.

Das heißt, Sie haben dabei auf möglichst verschiedene, kontrastreiche Gesichter geachtet?

Ich habe geguckt, wer mir von der Pose her gut gefällt. Den kleinen jungen, der sich die Eistüte an die Nase hält, fand ich z.B. witzig. Was die Pose betrifft, habe ich den Leuten keine Vorgaben gegeben. Ich hatte einen weißen Fotokasten,  habe Sie gefragt, was ihr Gefühl zu Neustadt ist und die Pose ihnen überlassen. Pärchen haben sich z.B. oft geküsst.

Und wie waren die Reaktionen der Menschen, als Sie sie um ein Foto für Ihr Projekt baten?

Skeptiker gab es eigentlich keine. Wer sich fotografieren lassen wollte, der hat das glaub ich auch gern gemacht. Viele kamen dann auch mit ihren Freunden oder Verwandten wieder. Das war auch ganz witzig.

Ihre Fotos sind ja neben dem weißen Hintergrund an verschiedenen Orten entstanden. Aus welchem Grund wählten Sie die verschiedenen Locations?

Für das Buch sind die Bilder an verschiedenen Orten entstanden, für die Ausstellung nur im Zentrum. Die Idee am Anfang war, dass ich von Stadtteil zu Stadtteil ziehe und die Fotos mache, aber dafür hat mir dann auch einfach die Logistik gefehlt, da ich selbst kein Auto habe. Deswegen ging das leider nicht, wie ich mir das gedacht habe (lacht). Ich war auch ganz glücklich, dass ich hier den Laden habe, da es teilweise auch recht kalt und regnerisch war.

Sie haben ja bereits erwähnt, dass Sie sich vorstellen könnten, wieder in Halle Neustadt zu wohnen. Hat denn speziell Ihr Projekt diese Gefühle gestärkt, eventuell wieder in Ihre alte Heimat zurückkehren zu wollen?

Das ist eine gute Frage. Ich habe ja vorhin bereits gesagt, dass ich ein Mensch bin, der sich gut vernetzen kann. Durch das Projekt bin ich mit den verschiedensten Personen, die man aus der Öffentlichkeit kennt, in Kontakt getreten. Zudem habe ich viele private Personen kennengelernt. Ich war in Schulen und Kindergärten. Das war sehr schön. Wir möchten das Projekt auch weiterführen. Was dabei rauskommen wird, kann man noch nicht sagen. Aber zurück zur Frage- ich wurde auch bei einigen Familien zum Essen eingeladen, hatte tolle Begegnungen und das Gefühl, neue Freunde zu gewinnen.

Das Wort Heimat hat ja für jeden eine individuelle Bedeutung. Was bedeutet für Sie Heimat?

Das ist eine gute Frage. Wir sind auch so eine herausgerissene Generation. Zur Wende 1989 war ich 17 Jahre alt und dann war alles, was wir zuvor als Heimat angesehen hatten, scheiße. Das war alles nichts mehr wert. Es war auch schwer für mich, mir als Mensch wieder eine neue Identität zu geben und mich in diesem neuen System zurechtzufinden. Ich habe auch London als Heimat bezeichnet. Das hat aber lange gedauert, so 4-5 Jahre. Aber ich denke, dass Heimat für mich etwas ist, wo mein Herz ist, wo meine Freunde sind, wo ich einfach hinkomme und mich zu Hause fühle. Das hat auch was mit den Gebäuden, Düften und Menschen zu tun. Das ist für mich Heimat. Aber ich bin auch immer noch auf der Suche. Da meine Großelterngenerationen vertrieben wurden, bin ich noch immer auf der Suche nach Heimat. So stakse ich manchmal noch immer im Nebel und suche, dass mein Herz endlich mal Ruhe findet.

Könnten Sie abschließend noch einmal ein paar zusammenfassende Worte über Ihren Bildband formulieren?

Ja also ich bin total glücklich und überwältigt. Die Leute haben gesagt: „Daniel, du fängst jetzt im Februar an, einen Bildband zu machen. Da hättest du vielleicht mal 2012, 2013 drüber nachdenken müssen. Das ist alles viel zu spät und der Zug ist schon abgefahren.“ Aber ich dachte mir, dass ich alle Zeit der Welt habe. Ich hatte 24 Stunden am Tag und das bis in den Juli rein. Das würde ich schon schaffen. Ich hab wider Erwarten so viele Türen eingerannt, habe so viele positive Rückmeldungen bekommen und hatte am Ende tausende Fotos zu Hause. Zudem habe ich sehr viele Leute kennengelernt. Wegen der Geschichten und Anekdoten, die in den Bildband aufgenommen wurden, hoffe ich sehr, dass dieser auf reges Interesse stößt. Also ich bin sehr glücklich, dass ich das gemacht habe. Früher habe ich immer Projekte angefangen und konnte diese wegen meines Jobs nicht zu Ende bringen. Das hat immer an mir gefressen. Das war jetzt das erste große Projekt bzw. Buchprojekt, das ich zu Ende bringe und das ist eine wirklich schöne Erfahrung.

Herr Schweitzer, vielen Dank für Ihre offenen Antworten und das Gespräch!