Familie prägt ...

Julie von Kessel ist manchen vielleicht als Reporterin des ZDF bekannt. Jetzt schrieb sie ihren Debütroman „Altenstein“. Der Familienroman beschreibt die Flucht mehrerer Generationen während des Zweiten Weltkrieges, die innere Zerissenheit einzelner Personen und wie stark Familiengeschichten das ganze Leben prägen können. Dies passiert auf eine sehr indirekte Weise – der Leser zieht selbst Zusammenhänge, kann Gründe erahnen und Geschehnisse entschlüsseln. Kulturfalterredakteurin Anne-Marie Holze traf die Autorin auf der Buchmesse. Hier das Interview.

Kulturfalter: Man schlägt das Buch auf und sieht sofort eine lange Liste voller Namen der Protagonisten im Buch. Wie erstellt man so ein Konzept, das alle Stränge und Personen verbindet?

Julie von Kessel: Das war ein ganz langer Prozess. Ich hatte im Büro dutzende bunte Karteikarten an der Wand. Es ist ja mein erstes Buch, deswegen war es für mich ein Lernprozess. Das allerschwierigste war, die Struktur des Romans zu finden. Wann führt man welchen Charakter ein?! Ich wusste von Anfang an so ungefähr, worum es gehen sollte. Doch es gibt eben viele Protagonisten. Deswegen habe ich auch das Verzeichnis erstellt, damit man immer wieder nachblättern kann, wer wer ist und wie die Familienverhältnisse sind.

Der Roman wird auch nicht chronologisch erzählt, sondern so, dass der Charakter der handelnden Personen aufgebaut wird. Warum sie so sind wie sie sind.

Es gibt schon viele Bücher über Ostpreußen und die Flucht. Auch meine Großmutter hat so eins geschrieben. Die sind alle meist biografisch und geschichtlich belegt. Ich wollte das anders machen. Ich wollte, dass es fiktiv ist. Und ich wollte die Figuren in der Jetzt-Zeit zeigen, also nach der Wende. Diese Rückblenden hangeln sich ja immer an den Personen entlang, um die es gerade geht. Die Fragen, die in der Gegenwart aufkommen, sollen mit der Vergangenheit beantwortet werden. Warum ist Konrad so rastlos, warum kann er weder bei einem Beruf noch bei einer Frau bleiben? Durch die Rückblenden hoffe ich, dass man ihn besser versteht und kennenlernt.

Den Zeitsprüngen zu folgen und den dadurch entstehende Inhaltslücke zu füllen, ist eine enorme Leistung des Lesers, Wollten Sie diesen Anspruch absichtlich?

Ich weiß, da wird dem Leser viel abverlangt. Ich persönlich lese aber auch lieber Bücher, bei denen ich mich konzentrieren muss. Ich wollte, dass verschiedene Fäden gesponnen werden. Das hat auch mich beim Schreiben viel Energie gekostet. Wenn ich die Geschichte chronologisch erzählt hätte, wäre der Roman auch viel länger geworden. So sind es Schlaglichter. Das finde ich spannender.



So wird dem Leser auch keine Meinung über den Charakter aufgedrückt.

Ja, ich finde das immer ganz ärgerlich, wenn mir bei Romanen gleich die Interpretation mitgeliefert wird. Ich möchte mir das selbst erschließen. Und wer ist denn „gut“ oder „böse“? Das sieht ja zum Glück jeder ein bisschen anders.

Welche Figur im Buch ist Ihre Lieblingsfigur?

Konrad ist für mich die tragischste Figur, er berührt mich am meisten. Dieser Typus hat mich auch immer interessiert: Ein Playboy mit einer traurigen, dunklen Seite.

Steckt in jeder Figur auch ein bisschen was von Ihnen?

Ich würde sagen, dass ich alle Figuren total mag. Ich finde alle auf eine Art bewundernswert und liebenswert.

Ist es vielleicht auch ein Bedürfnis als Autor Personen zu schaffen, die man mag?

Auf jeden Fall Personen, die spannend sind, die einen faszinieren.

Sie haben schon in vielen verschiedenen Städten gelebt. Auch die Figuren im Buch haben keinen wirklichen Heimatbegriff. War das für Sie nicht notwendig?


Ich selber habe nirgends ein starkes Heimatgefühl. Wir haben mal in Bonn gelebt - die Orte, die im Buch vorkommen, kenne ich auch. Sonst wäre es sehr schwer für mich darüber zu schreiben. Ich wollte zeigen, dass diese Generation so geprägt ist von der Flucht, wieder neu anfangen und sich beweisen zu müssen, sich nicht zu Hause fühlen und wieder anstrengen zu müssen. Diese Erfahrung habe ich auch gemacht in meiner Familie. Nach dem Mauerfall sind viele meiner Familie wieder in den Osten gezogen, weil sie das Gefühl hatten, wieder in ihre Heimat zu müssen. Das habe ich als Kind nicht verstanden. Und jetzt, wo ich selbst in dem Alter bin, verstehe ich das eher. Dass man wieder dorthin möchte.



Sie haben auch ein „von“ im Namen. Ein Adelstitel. Wieder eine Paralelle zur Familie im Buch.

Richtig. Die Geschichte ist zwar fiktiv, aber sie spielt in einem Milieu, das ich gut kenne. Es gibt schon Cousins, Onkel oder Tanten, deren Eigenheiten und Macken in die Geschichte eingeflossen sind. Und ich habe mehrere Cousins, die nach der Wende Grundstücke im Osten gekauft haben.

Warum die Entscheidung also einen Familienroman zu erzählen?


Ich selbst liebe Familienromane und interessiere mich vor allem für Familiendynamik. Weil es ja sehr prägend ist, ob man die jüngste oder der älteste ist. Sind die Kinder auf die Eltern bezogen oder rotten sich die Kinder zusammen und rebellieren? Oder unterbinden es die Eltern, dass sich die Kinder untereinander zu nahe sind und sich auflehnen können? Ich glaube, Familie prägt einen auf eine Art, die man nicht mehr los wird.

Im Vergleich zu Ihrer journalistischen Arbeit beim ZDF – was ist beim Roman schreiben besser oder schlechter?

Zugleich das Schönste und das Schlimmste ist, dass ich so allein bin. Beim Fernsehen ist es eher Teamwork, man muss viel reden, man ist abhängig. Beim Schreiben bin ich nur von mir abhängig. Das kann aber auch Angst machen, vor dem leeren Papier zu sitzen. Allerdings ist es auch toll, völlig abzutauchen. Ich kann meine eigenen Entscheidungen treffen: das Springen in Ort und Zeit und die vielen Personen – das wollte ich von Anfang an. Das war total befreiend, das durchzusetzen.

Gibt es schon ein neues Projekt?

Ja, gibt es. So richtig viel weiß ich noch nicht, aber es spielt in der Gegenwart. Die Ideen kommen ein bisschen beim Schreiben. Ich brauche immer eine Weile dafür, aber irgendwann kommt so eine geistige Offenheit. Und dann denkt man eigentlich nur noch daran. Dann steht man unter der Dusche und deckt: „Stimmt, die könnte das und das gemacht haben.“ Es gibt sicher Genies, die haben eine Idee und die fließt aus der Feder. Bei mir dauert das.

Muss man vielleicht die Figuren selbst erst kennenlernen?


Ja, auf jeden Fall. Und dann sind die immer bei einem. Dann denkt man an Marotten, Eigenarten. Und da fange ich an zu recherchieren oder spreche mit Personen, die ähnlich sind, das ist schon relativ journalistisch, ob diese Marotten realistisch sind. Das dauert auch eine Weile, sich zu belesen.

Vielen Dank für das Interview, Frau Kessel.