Titus Müller - Der Tag X

Titus Müller ist einer der wenigen Autoren, der keine Serien trotz historischer Thematik schreibt. Mit seinen abwechslungsreichen Romanen lässt er die Leser durch die Jahrhunderte reisen. Im Februar dieses Jahres erschien sein aktuellstes Werk "Der Tag X". Martin Große sprach mit ihm über seine Inspiration, Recherche in Halle und seinen Schreibstil.

 Ihre Romanheldin Nelly fliegt aus Schule wegen ihrem Engagement in der Kirche. Sie haben einen kirchlichen Hintergrund, fließt in diesen Roman Autobiografisches mit ein?

Ich habe 1953 nicht gelebt, aber ich kann diese Beklemmungen nachempfinden, die man bei offiziellen Anlässen in der Schule gehabt haben muss, weil ich auch kein Mitglied der Partei war. Ich war ‚nur‘ Jungpionier, aber Thälmannpionier nicht mehr. Zudem auch immer ein Außenseiter. Mich hat einmal meine Direktorin, die für mich die absolute Machtfigur war, angefleht, doch wenigstens etwas anzuziehen, was so ähnlich aussieht wie die Uniform der anderen. Es war ihr so peinlich, jemanden an ihrer Schule zu haben der nicht auf Linie war.

Gab es während oder kurz nach der friedlichen Revolution einen Punkt, wo sie realisierten, dass Sie nun doch Abitur machen können?

Daran erinnere ich mich nicht, nur daran, dass wir in Berlin lebten und wie uns die Lehrer verängstigten. Sie sagten: ‚Wenn ihr jetzt über die Grenze geht, dann bekommt ihr einen Stempel in den Pass und kommt nicht wieder zurück.‘ An diese Angst am Grenzübergang kann ich mich erinnern.

Welche Rolle spielt Halle in diesem Roman?

Die Hälfte der Geschichte spielt in Halle. Bei meinen Recherchen zum 17. Juni in Halle bin ich auf die Geschichte einer Reinemachefrau, wie es zu DDR-Zeiten so schön hieß, gestoßen. Diese hat sich als erste ein Herz gefasst: In ihrem Betrieb, LOWA in Waggonbau Ammendorf, war eine Bühne aufgebaut und sie war die Erste, die den Mut hatte, sich darauf zu stellen und zu sprechen. Sie rechnete natürlich mit ihrer Verhaftung und musste auf jeden Fall eine Romanfigur werden. Eine weitere Geschichte, die ich im Roman aufgreife, ist die des Hallensers Gerhard Schmidt. Dieser wurde während der Geschehnisse rund um das Gefängnis Roter Ochse wahrscheinlich vom einem Querschläger des Wachpersonals oder der Polizei getroffen und verstarb. Der Staat organisierte ein Riesenbegräbnis mit einem Trauerzug von über 4000 Teilnehmern für ihn. Schmidt wurde zum Helden stilisiert, der sich den Aufständischen entgegenstellte und von ihnen erschossen wurde.

Haben Sie dafür die Stadt erkundet?

Ja, ich war viel in Halle unterwegs. Hauptsächlich am Roten Ochsen und im Landesarchiv in Merseburg, dort befindet sich das Archiv der alten Polizeiakten. In einer der Akten fand ich die Aufzeichnungen zu der Bestattung und wessen Idee diese war. Auf einer anderen stand handschriftlich geschrieben: „eventuell auch größere Aktion“. Sie haben sich für jeden einen Plan überlegt, wie mit ihm umgegangen werden soll. Aus diesen Plänen ist tatsächlich auch etwas entstanden.

Was kennen Sie von Halle?

Da muss ich überlegen. Für mich war der bewegendste Moment vor dem Roten Ochsen zu stehen und zu wissen: "Hier ist es passiert. Hier sind die Schüsse gefallen. Hier gab es die Toten." Ich bin während der Recherche zu tief in der Geschichte und kümmere mich nicht so intensiv um die Umgebung. Aber grundsätzlich liebe ich Städte, die eine Straßenbahn haben.

Wie viel haben Sie für Titus X recherchiert?

Ich recherchiere immer nur ein Vierteljahr und beginne danach vorerst mit dem Schreiben. Ich suche mir dann nach und nach meine Informationen, die ich benötige. Ich schätze ein halbes/dreiviertel Jahr habe ich für mein Buch recherchiert.

Sie sagten in einem Interview Sie würden gern mal in Moskau leben?

Waren Sie in Russland für das Buch? Nein, in Russland war ich nicht. Auch wenn die Beschreibungen sehr genau sind, zum Beispiel über Stalins Tod, habe ich die Informationen jedoch alle aus zweiter Hand. Das schwierige ist, dass man widersprüchliche Angaben hat. Chruschtschow zum Beispiel hat es am Anfang so darstellen lassen, dass er an Stalins Krankenbett geweint hat, später war das natürlich nicht mehr so In. Sicher ist jedoch, das im Nachbarzimmer von Stalins Krankenbett geschachert wurde, wer an die Macht kommt. Eigentlich erfinde ich da sehr wenig. Man könnte meinen, ich habe viel Phantasie, aber ich baue lediglich nur die geschichtlichen Fakten zusammen.



Titus Müller - Die Psychologie des Schreibens



Sie schreiben keine Serien, sondern Ihre Romane sind ein bunter Mix aus Jahrhunderten und Themen. Wie finden Sie da Ihre Inspiration und Ideen?

Ich denke, dass hängt damit zusammen, welche Antennen man ausgefahren hat. Als Pastorensohn haben mich religiöse Themen schon immer interessiert, daher startet die Geschichte mit den Mitgliedern der Gemeinde, die von der Schule fliegen. Oder es ist was Historisches, wie 1848, wo ich dann denke AHA!, da haben wir unsere Redefreiheit und Pressefreiheit her. Aber für den "Tag X" kann ich es nicht genau sagen. Es ist für mich auch eine emotionale Geschichte, vielleicht weil wir auf einen Kalten Krieg hinsteuern, interessiere ich mich für diese Art Krieg.

Was steht zuerst fest: die Zeit oder die Handlung?

Bei mir ist es erst die Zeit, dann die Handlung und dann die Figuren. Ich weiß bei vielen Autoren ist es anders herum. Viele haben eine spannende Figur und überlegen, wann könnte diese gelebt haben. Ich weiß, ich möchte über den 17. Juni schreiben, dann schaue ich, wer hat am meisten gelitten. Mit wem kann man mitleiden? Danach, wer saß am Schalthebeln der Macht. Deswegen muss Berian und Stalin oder Adenauer und Churchill vorkommen, denn ich möchte auch zeigen, wie deren Entscheidungen getroffen wurden.

Andere Autoren historischer Romane schreiben Serien. Warum haben Sie das bisher nicht gemacht? Würden Sie vielleicht einmal gern?

Das wäre vielleicht taktisch besser, aber ich bin immer so schnell gelangweilt. Ich brauche immer schnell ein neues Jahrhundert, eine neue Zeit. Eine neue Situation an der ich bei Null beginne. Das reinfuchsen in eine neue Sache macht mir Spaß, deswegen auch die vielen Jahrhunderte. Meine armen Leser... Die werden von Einem ins Andere geschleudert, aber da müssen sie durch.

In einem anderen Interview sagten Sie, dass Sie gern Filmmusiken während des Schreibens hören. Passen die thematisch zur Zeit, über die Sie schreiben?

Nein das nicht, aber thematisch. Ich höre dramatische Musik, wenn ich was Dramatisches schreibe und Romantisches, wenn ich was Romantisches schreibe. Weil das meine Emotionen befeuert.

Sind das Soundtracks von Filmen, die Sie kennen? Haben Sie da nicht Angst, von den Bildern beeinflusst zu werden?

Komischerweise denke ich dabei nicht an die Filme und kann dies gut voneinander trennen. Die Musik nimmt mich emotional mit, aber ich habe nicht die Filmbilder im Kopf.

War das Buch „eine schwere Geburt“? Wenn man Ihre der Danksagung an Ihren Lektor liest, könnte man das denken?

Nein, das nicht, aber ich fand es ungewöhnlich. Mein Lektor hat sich so da rein gehängt, er hat sich selber Bücher zum 17. Juni besorgt. Ihm verdanke ich einzelne Passagen über Churchill, daraufhin musste er genannt werden.

Was macht für Sie einen guten Roman aus?

Ich glaube, dass jeder Autor die Geschichte aus seinem spezifischen Blickwinkel erzählt. Bei mir ist das zum Beispiel der der Religion. Da jeder seinen eigenen hat, erzählt jeder eine neue Facette davon. Jeder Autor sollte sich die Illusion nehmen, dass man eine komplett neue Geschichte erzählen kann und muss. Beispiel Liebesgeschichte. Es gibt Romeo und Julia, es gibt sie in tausend Varianten, und trotzdem wollen wir sie immer wieder hören.

Was machen Sie als Ausgleich zur schreibenden, sitzenden Tätigkeit?

Einmal in der Woche spiele ich Volleyball. Das macht mir Spaß, alleine an Maschinen rumturnen ist mir zu langweilig. Ich brauche andere Menschen, die mich mitreißen.

Gibt es schon ein neues Projekt?

Ich überlege momentan, welches Jahrhundert mich interessiert, und tendiere zum 20. Mehr weiß ich allerdings noch nicht.

Lieber Herr Müller – vielen Dank für das Gespräch.