Regisseur Ulrich Seidl im Interview zur Paradies-Trilogie

Der Film „Paradies: Liebe“, mit dem Ulrich Seidel im Januar 2013 seine Paradies-Trilogie eröffnete, widmet sich einem heiklen Thema. Und zwar der käuflichen Liebe in Kenia. Kulturfalter sprach mit dem Regisseur Ulrich Seidel über die Idee zum Film, der den Auftakt zu einer Trilogie bildet, die von drei Frauen einer Familie erzählt, die jede für sich ihren Urlaub verbringt.

Kulturfalter: Für „Paradies: Liebe“ entstand die Geschichte frei und improvisiert. Wie verlief der Schreibprozess bei diesem Film?

Ulrich Seidl: So kann man das nicht sagen. Die Keniageschichte war ursprünglich die längste, am detailliertesten ausgeführte Geschichte im Drehbuch des Paradies-Projektes. Wir hatten zwei Jahre lang immer wieder in Kenia recherchiert. Aber wie bei all meinen Filmen haben sich dann bei den konkreten Vorbereitungen Änderungen herauskristallisiert. Im Fall dieser Episode waren sie massiver als sonst. Ursprünglich wollten wir erzählen, dass eine Frau bereits eine Liebesbeziehung in Kenia hat und zum zweiten Mal hinfährt. Mit der Entscheidung, dass Grete Tiesel die Hauptrolle spielt und den Szenencastings, die ich im Vorfeld auch mit den afrikanischen Männern machte, hatte ich die Erkenntnis, dass es spannender wäre zu erzählen, dass die weiße Frau zum ersten Mal nach Afrika kommt und zum ersten Mal Berührungen mit schwarzen Männern hat. Außerdem hatte ich bei der Endauswahl für den schwarzen Hauptdarsteller zwei mögliche Kandidaten und wusste nicht, für wen ich mich entscheiden sollte. Es war eine sehr heikle Angelegenheit, weil die Szenen auch intim und körperlich, authentisch sein mussten. Also habe ich mit beiden Hauptdarstellern zu drehen begonnen und mich von Tag zu Tag an den Ergebnissen der Arbeit orientiert und den nächsten Drehtag geplant. Vieles vom Drehbuch ist aber auch erhalten geblieben.

Sie arbeiten immer mit einer Mischung aus Laien und Schauspielern. In diesem Fall sind die Laien die Beachboys von den Stränden Kenias? Wie haben Sie sie kennengelernt? War es schwierig, sie vor die Kamera zu bringen?

Zum einen. Es war überhaupt nicht schwierig, Beachboys kennenzulernen. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist unmöglich, Beachboys nicht kennenzulernen, sobald man den Strand in Kenia betritt. Sofort wird man umringt und belagert und das in allen Sprachen. Das Kunststück war vielmehr, die Richtigen für den Film zu finden und Vertrauen zu schaffen. Das hat nicht gleich funktioniert. In Kenia funktioniert alles nur über das Geld, ob man will oder nicht. Als weißer Europäer in Kenia gilt man bei Einheimischen als jemand, der Geld hat und so wird man auch behandelt.

Wie äußert sich das konkret?

Nur einen Beachboy beispielsweise zu einem bestimmten Ort (für ein Casting) zu bekommen, kostet schon Geld. Wenn es ums Geld geht, sind die Kenianer unglaublich erfinderisch. Wir würden es als Lüge bezeichnen, unter welchen Vorwänden sie Geld von dir verlangen, aber ich habe gelernt, das einfach als Einfallsreichtum zu bewerten. Ein kenianischer Beachboy findet es ganz normal, wenn er dir binnen wenigen Tagen weiß machen will, wer alles in seiner Familie krank geworden ist, wer alles einen Unfall hatte, einen Schlangenbiss, welcher Bruder an Malaria erkrankt ist oder welche Großmutter gestorben ist.

Was waren Überlegungen beim Casting der Hauptdarstellerinnen – im Fall von Paradies: Liebe für Margarethe Tiesel?

Ich hatte mir von Anfang an eine Schauspielerin in der Hauptrolle vorgestellt. Doch das Anforderungsprofil war beträchtlich. Eine Frau über 50, die nicht dem gängigen Schönheitsideal der heimischen Männerwelt entsprechen sollte, indem sie zum Beispiel übergewichtig ist. Sie musste – wie es bei meiner Methode üblich ist – die Fähigkeit haben, Szenen zu improvisieren und vor der Kamera authentisch sein. Und dann gab es noch die größte Schwierigkeit: sie musste bereit sein, sich auch auf schwarze Männer als Liebespartner und nackte Sexszenen einzulassen. Wir haben fast ein Jahr gecastet – Margarethe Tiesel war dann ein Glücksfall.

Stärker noch als bei „Hundstage“ und „Import Export“ scheint nun der Spielfilmcharakter, das Spiel mit „Fiktionen“ in den Vordergrund zu treten. Kann man das so sagen?

Nein. In allen drei Filmen, also in „Hundstage“, „Import Export“ wie auch in „Paradies: Liebe“ sind die Geschichten, die erzählt werden, fiktiv, gehen aber sehr oft auf eigene Beobachtungen, Erfahrungen oder Begegnungen mit anderen Menschen zurück. Man schöpft aus der Realität und erfindet sie gleichzeitig neu.

Körperlichkeit und Schönheit: Was assoziieren Sie damit?

Körperlichkeit spielt bei meinen Filmen immer eine große Rolle. Ich liebe es, hautnahe Bilder zu machen, Menschen in ihrer Physis ungeschminkt zu zeigen. Gerade darin, in dem Ungeschönten, liegt für mich so etwas wie Schönheit. Rund um die Trilogie zirkulieren immer wieder die Begriffe Glaube, Liebe, Hoffnung.

Ist Ödön von Horvath für Sie eine Inspiration?

Ich habe als Jugendlicher begeistert Ödön von Horvath gelesen. Seine Romane und Dramen haben auch ein wenig zu meiner Lebenseinstellung und zu meiner Sicht auf das Menschliche beigetragen. Auf die Paraddies-Trilogie hat er aber keinen direkten Einfluss gehabt.

Die finale Titelgebung hat sich erst in der Endphase des Schnitts konkretisiert. Wie lässt sich die Ästhetik der Filme der Paradies-Trilogie beschreiben?

Meine filmische Umsetzung, das heißt, wie und in welchen Bildern etwas erzählt wird, richtet sich zum einem nach den örtlichen Gegebenheiten, den Locations, also auch danach, was unter welchen Umständen erzählt werden soll. Dabei spielt die Atmosphäre, in der die jeweilige Geschichte spielen soll, eine große Rolle. Kenia etwa, wo es laut ist und wo durch das Meer, die Palmen, den Strand eine vordergründige exotische Freiheit vermittelt wird. Ich hatte aber im Vorfeld an verschiedenen Orten der Welt recherchiert, auch in der Karibik, in der Dominikanischen Republik, wo es „Sugarmama“-Tourismus ebenfalls gibt. Letztendlich habe ich mich aber für Afrika entschieden, weil mich die aufgeladenen, gesellschaftlichen Zustände, die Wunden der Vergangenheit der europäischen Kolonialgeschichte interessiert haben. Afrika hat mich in seinen Bann gezogen: in seiner Vielfalt und Zerrissenheit, Schrecklichkeit und Schönheit, Armut und Reichtum durch Tourismus, der nichts anderes ist als eine zeitgemäße Kolonialisierung. Ich finde diesen Kontinent (auch visuell) endlos inspirierend.

Herr Seidl, Vielen Dank für das Gespräch.





Paradies: Hoffnung – Seidels Antihelden-Meisterwerk

Mit „Paradies Hoffnung“, der im Mai 2013 in die Kinos kam, beendete Ulrich Seidel seine lose Paradies-Trilogie und begründet damit ein Werk, das sich nicht verstecken muss. Auf eine scharfsinnige und emotional an die Grenzen gehende Art und Weis inszeniert Seidel die Destruktion dreier gesellschaftlicher Idealismen, die in den Werten „Liebe“, „Glaube“ und „Hoffnung“ kulminieren.

Wurde in „Paradies: Liebe“ die Illusion einer erfüllten Liebe ihrer idealen Schönheit beraubt, so schonungslos destruiert „Paradies: Glaube“ einen fanatischen, ja fast schon in die Psychose gleitenden Glauben eines Menschen, der darin aufgeht. Seidels Figuren – und das macht einen wesentlichen Punkt der Größe seiner Filme aus – sind so ambivalent, dass der Zuschauer zwischen Betroffenheit, Verstörung und Spiegelung des Selbst schwankt; und nicht herauskommt. In seinem letzten Paradies-Film widmet sich Seidel nun der Hoffnung. Am Beispiel des infantilen Wunsches nach Zuneigung und der Erfüllung romantischer Ideen deckt „Paradies: Hoffnung“ anhand der Geschichte von Melanie unbarmherzig auf, in welcher Welt solche Ideale notwendig sind. Denn Melanie ist ein eigentlich ein schönes, junges Mädchen.

Wenn sie nicht ein entscheidendes Problem hätte: sie ist übergewichtig. Während ihre Mutter in Kenia Urlaub macht und ihre Tante Anna Maria in christlicher Mission um die Häuser zieht, will Melanie in einem Diätcamp zur idealen Figur kommen. Dort verliebt sie sich in einen um 40 Jahre älteren Arzt, den Leiter des Camps. Sie kämpft um ihn mit der Ausschließlichkeit der ersten Liebe und will ihn in aller Unschuld verführen. Auch der Arzt begehrt Melanie und mit jeder Geste, mit der sich ihr nähert, verstärkt sich die Erkenntnis beim Zuschauer, wie haltlos diese Liebe ist. Zugleich nimmt sich Seidels Film die Freiheit, die Gefühle von Melanie und dem Arzt in keiner Weise zu bewerten – genau so bleibt der Zuschauer am Ende des Films in einer Gefühlslage von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zurück.