Turnvater Jahn - Ambivalenzen eines deutschen Nationalisten

Im Sommer dieses Jahres hielt der Historiker Theo Jung auf Einladung des Vereins für hallische Stadtgeschichte einen sehr gut besuchten Freiluftvortrag. Dabei ging es um den auch „Turnvater Jahn“ genannten Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) und dessen Leben und Wirken in Halle. Die Studentin Annika Sieber hat Prof. Jung für uns einige Fragen gestellt:
Herr Jung, für einen niederländischen Historiker klingt es außergewöhnlich, einen Vortrag über ein Thema zur hallischen Stadtgeschichte zu halten. Welchen Bezug haben Sie zur Saalestadt?
Ich gebe zu, bevor ich an die Martin-Luther-Universität berufen wurde, gar keinen. Doch schon nach kurzer Zeit fühle ich mich hier richtig wohl. Für Historiker gehört zum Ankommen in einer neuen Stadt natürlich auch die Beschäftigung mit ihrer Geschichte. Mit Studierenden habe ich etwa die Revolutionsereignisse von 1848/49 in der Stadt erforscht. Im Verein für hallische Stadtgeschichte freue ich mich darauf, auch Themen aus anderen Epochen näher kennenzulernen.
Was verbindet den vielen unter dem Namen „Turnvater“ bekannten Friedrich Ludwig Jahn nun speziell mit der Stadt Halle?
Kurz vor 1800 studierte Jahn Theologie an der damaligen „Friedrichs-Universität“. Er geriet aber ständig in Konflikt mit seinen Kommilitonen, vor allem mit den Mitgliedern der Verbindungen, die damals „Landsmannschaften“, „Orden“ oder „Kränzchen“ genannt wurden. Auf Dauer eskalierten diese ständigen Auseinandersetzungen dermaßen, dass Jahn sich aus der Stadt absetzte und einige Zeit in einer Höhle am Saaleufer vor seinen Mitstudenten versteckt hielt. Um Jahns Aufenthalt in der Höhle am Giebichenstein ranken sich viele Mythen.
Gibt es hinter den vielen Geschichten auch einen wahren, historischen Kern?
Natürlich, auch wenn der nicht immer leicht zu entdecken ist. Sicher ist, dass Jahn sich über mehrere Sommer in der Höhle aufhielt. Er pachtete sogar einen kleinen Acker am gegenüber gelegenen Ufer bei Kröllwitz, wo er Kartoffeln für den eigenen Bedarf anbaute. In der Höhle las er viel und verfasste auch eine erste Publikation: „Über die Beförderung des Patriotismus im Preußischen Reiche". Einige Erzählungen über die abenteuerlichen Kämpfe mit seinen Mitstudenten und über sein politisches Erweckungserlebnis bei der Lektüre von „Dya-na-Sore oder die Wanderer“, einem damaligen Bestseller, sind rückblickend wohl etwas „angereichert“ worden. Andere, wie die, dass er die Höhle selbst ausgesprengt hätte, oder dass er sich dort vor napoleonischen Truppen versteckt hätte (die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht vor Ort waren), sind reine Fiktion. Als Mitbegründer der Turnbewegung und der Urburschenschaftm hatte Jahn in späteren Jahren immer eine ganze Horde von jungen „Groupies“ um sich, die die spannenden Geschichten aus den Jugendjahren ihres Lehrmeisters begeistert aufnahmen. Jahn kam deren Nachfrage gern entgegen.
In Ihrem Vortragstitel deuteten Sie an, Jahn sei ein ambivalenter Nationalist gewesen. Was genau meinen Sie damit?
Nach der Gründung des Kaiserreichs wurde Jahn als Vorreiter der deutschen Nationalbewegung gefeiert. Aber wenn man auf die Frühphase seines Lebens schaut, vor den sogenannten Befreiungskriegen gegen das napoleonische Frankreich, sehen wir, dass seine Haltung zur „Nation“ zu dieser Zeit noch keineswegs eindeutig war. In der hallischen Studentenschaft grenzte er sich von den in den „Landsmannschaften“ organisierten Studenten aus anderen deutschen Gebieten resolut ab. Und in der bereits genannten ersten Publikation positionierte er sich als glühender preußischer Patriot. Von einer gesamtdeutschen Vision war er damals noch weit entfernt.
In diesem Jahr wurde das 175. Jubiläum der deutschen Revolution von 1848/49 gefeiert. Jahn wird als einer ihrer Wegbereiter betrachtet. Was für eine Vorstellung hatte Jahn von einer deutschen Nation?
Schon Jahns früher Preußenpatriotismus kombinierte die Idee einer Kulturnation, die in einer geteilten Geschichte und Sprache gründet, mit der Betonung männlicher Wehrhaftigkeit. Körperliche und geistige Ertüchtigung gehörten für ihn zusammen. Bis zu seinem Lebensende verstand sich Jahn als „Preuße“, doch entwickelte er im Kampf gegen die Franzosen auch eine Vision eines gesamtdeutschen Nationalstaats (unter preußischer Führung, versteht sich). In der Turnbewegung und den Burschenschaften sowie als Publizist engagierte er sich für die Verwirklichung eines geeinten Deutschlands, doch wurde er dabei vom Repressionssystem der im Deutschen Bund vereinten Einzelstaaten stark behindert und sogar mehrmals inhaftiert. Als die Revolution von 1848/49 kam, war Jahn schon siebzig Jahre alt. Aufgrund seiner Prominenz wurde er in Merseburg zum Abgeordneten der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche gewählt. Doch konnte er inzwischen mit den radikalen Forderungen mancher Revolutionäre nicht mehr viel anfangen. Seine parlamentarischen Auftritte zeigten eine stark konservative Ader und wurden von der jüngeren Generation eher belächelt.
Lieber Herr Jung, herzlichen Dank für das Gespräch.