Picassos Taube per Rennrad. Halle und die Internationale Friedensfahrt

Die Internationale Friedensfahrt hat im Frühjahr 2023 ihr 75. Jubiläum. Sportlich besehen handelte es sich bei der – ehrenvoll, nicht ironisch – auch „Tour de France des Ostens“ genannten Friedensfahrt jahrzehntelang um das bedeutendste Radsport-Etappenrennen für Amateure weltweit, zumindest in ihrer „klassischen Epoche“ bis 1989/90. Darüber hinaus ist die 1948 begründete Friedensfahrt bis heute ein Erinnerungsort des Sports für Millionen Menschen vor allem in den vormals staatssozialistischen Ländern. Heldennamen des Radsports wie Jan Veselý, „Täve“ Schur, Ryszard Szurkowski oder Olaf Ludwig, Ereignisse und Duelle epischen Zuschnitts sind mit ihr verbunden. Auch Mitteldeutschland hat seine speziellen Friedensfahrt-Orte, Kundige denken etwa an die „Steile Wand von Meerane“. Von der einstigen Bedeutung zeugen auch ein breites Spektrum von Memorabilia wie etwa Anstecknadeln, Bierkrüge, Gläser, Plaketten, Medaillen oder Wimpel sowie mediale Erinnerungszeichen von großer Reichweite wie Fotoserien, Sonderhefte, Bücher oder Sonderbriefmarken. Erinnert sei als musikalisch-ikonisches Erkennungszeichen auch an die von Paul Noack-Ihlenfeld  komponierte Friedensfahrt-Fanfare.



Zu den zwei Ursprungsländern von 1948, VR Polen und CSR (ab 1960 CSSR), kam 1952 die DDR hinzu. Und so berührte das Rennen 1952 auch erstmals Halle, als dessen 8. Etappe über 212 km die Strecke von Leipzig u. a. via Halle nach Chemnitz führte. Für Halle, in einem imaginären Ranking der DDR-Bezirksstädte als Hauptstadt des Chemiebezirks (seit 1952) hoch anzusiedeln, war dann 1958 Premiere als eigener Etappenort, als die XI. Friedensfahrt in 2210 km von Warschau über Berlin nach Prag führte. Deren 8. Etappe wurde in zwei Teilen ausgetragen, als Einzelzeitfahren über 40 km von Leipzig nach Halle (Sieger: Täve Schur, DDR) sowie von Halle nach Karl-Marx-Stadt über 143 km (Sieger: Jewgeni Klewzow, UdSSR). In der Folge wurde Halle vielfach Etappenort: so 1959, 1960, 1961, 1967, 1968, 1970, 1973, 1978, 1980, 1983, 1986, 1988 und 1989. Als je eigene Etappe kamen in den Jahren 1980, 1983 und 1986 Einzelzeitfahren hinzu. Letztmals war die Stadt 1998 und 2000 Gastort, d. h. bereits in der Zeit des Niedergangs des Rennens vor seinem schließlichen Ende 2006. Orte der Zielankunft in Halle waren zunächst das Kurt-Wabbel-Stadion, später das Klubhaus der Gewerkschaften sowie zuletzt Halle-Neustadt. In die hiesige Statistik trugen sich prominent Sieger wie Täve Schur, Olaf Ludwig oder Dschamolidin Abduschaparow ein. Mit Wolfgang Braune (*1934) ging 1957 und 1959 auch ein in Halle geborener und zum Radrennsportler ausgebildeter Fahrer als Teil der DDR-Equipe an den Start.



Kerngedanken der Friedensfahrt waren – bei aller späterhin unübersehbaren ideologisch politischen Instrumentalisierung – Friedensstiftung und Verständigung über Grenzen hinweg. Denn die von ihr durchfahrenen Regionen formen auch eine Topographie der Schlachtfelder und gewaltsamen Verheerungen in Ostmitteleuropa, aus der Perspektive des Gründungsjahres 1948 vor allem jener des Zweiten Weltkriegs. Etappenort war Halle auch in Jahren von epochaler Tragweite, so neben 1961 und 1989 auch 1968 wie 1986. Die traditionell im Mai gefahrene Tour fiel 1968 in ein Jahr auch historischen „Frühlingserwachens“. Die dann im Sommer folgende Niederschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch von Truppen des Warschauer Vertrages in die CSSR – auf den vielbeschworenen „Straßen des Friedens“ rollten Panzer der „sozialistischen Bruderländer“ – hatte auch direkte Folgen für die so prestigeträchtige Friedensfahrt. Im Ergebnis der Intervention wurde für die 22. Auflage 1969 der Streckenverlauf derart geändert, dass das Rennen erstmals nur zwischen der DDR und Polen ausgetragen wurde bzw. in der CSSR nur für einen kurzen Abschnitt dem Verlauf der polnischtschechoslowakischen Grenze folgte. Nachdem der Friedensfahrt-Start 1985 anlässlich des „40. Jahrestages der Befreiung“ nach Moskau transloziert wurde, begann das Rennen 1986 am 6. Mai und somit wenige Tage nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl trotz zahlreicher Absagen „plangemäß“ in Kiew, um noch im Angesicht des GAUs den Schein behaupteter Normalität zu wahren.



Und so gilt für die Friedensfahrt im Speziellen, was für den Sport insgesamt gelten kann. Er ist einerseits mehr als wacher „Spiegel“ und erzeugt vielfach einen Eigen-Sinn. So wenn der Rekordetappengewinner und zweifache Gesamtsieger Olaf Ludwig in legendären Duellen den teils jenseits der Fairness fahrenden sowjetischen Sprinter Abduschaparow niederringt und die „kleine“ DDR stellvertretend über den „großen Bruder“ UdSSR obsiegen lässt. Zugleich kann er Objekt politischer und gesellschaftlicher Wetterlagen sein. Diese Ambivalenz zwischen Eigengesetzlichkeit und gezielter Inanspruchnahme des Sports verkörpert sich paradigmatisch in Gestalt von Täve Schur. In einer sportlichen Gesamtschau wird der Premierensieger in Halle von 1958 vielen wohl als populärstes Gesicht der Friedensfahrt gelten. Zugleich besetzt er als Held des Sports gleichsam idealtypisch einen Platz in einer Kulturgeschichte des sozialistischen Helden, seiner Konstruktion und öffentlichen Inszenierung.