Hans Vaihinger (1855–1933) – Begründer der Kant-Studien und der Kant-Gesellschaft in Halle
Am 22. April feiert der Philosoph Immanuel Kant seinen 300. Geburtstag. Obwohl er seine Geburtsstadt Königsberg praktisch nie verlassen hat, wurden und werden seine Bücher auf der ganzen Welt gelesen, so dass er bis heute zu den bekanntesten und umstrittensten Philosophen überhaupt zählt. Seit 1770 Professor an der Königsberger Universität, hatte Kant 1778 die Chance, nach Halle zu gehen. Den Ruf auf einen Lehrstuhl lehnte er ab, doch wurden mehrere von Kants Arbeiten in Halle gedruckt, u. a. zwei seiner späteren Hauptwerke, die „Kritik der reinen Vernunft“ (1781/87) und die „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788). Besonders das zweite Werk sollte, mehr als hundert Jahre nach dem Erscheinen, noch einige Furore machen. Und dabei spielte Halle eine erhebliche Rolle. 1884 kam Hans Vaihinger in die Saalestadt, er sollte die Kantforschung grundlegend verändern. Für ihn eingesetzt hatte sich – gegen den Widerstand der Philosophischen Fakultät in Halle – Friedrich Althoff, als leitender Beamter im preußischen Kultusministerium einer der wichtigsten bildungspolitischen Akteure im Kaiserreich, um die hallesche Universitätsphilosophie zu modernisieren. Vaihinger (1855–1933) war Sohn eines Pfarrers, stammte aus der Nähe von Tübingen und hatte am Tübinger Stift Theologie studiert, bevor er sich, u.a. in Leipzig, auf die Philosophie umorientierte. Das Tübinger Stift war zu dieser Zeit eine der Gelehrtenschmieden schlechthin: u. a. Hegel und Hölderlin hatten dort studiert. 1881 und 1892 hatte Vaihinger einen zweibändigen Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft vorgelegt. Das war auch der Grund für seine Berufung.
In der Zeit von Vaihingers Wirken war die Debatte um Kants Schriften in vollem Gange. Dieser hatte in der „Kritik der praktischen Vernunft“ betont, dass jede vernünftige Form moralischen Denkens nicht nur die Freiheit, sondern auch die Unsterblichkeit der Seele und Gott als objektive Realität postulieren müsse. Besonders die beiden letzten Postulate waren den Denkern des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein Dorn im Auge. Die Menschen des von Werner von Siemens so betitelten „Zeit-alters der Naturwissenschaften“ verstanden sich durchaus als vernünftig. Doch sollten nun naturwissenschaftliche Erkenntnisse die empirische Basis allen Denkens liefern und nicht Postulate. An Gott sollte man glauben, nicht seine Realität erweisen, und die Unsterblichkeit der Seele fiel in den Bereich des Okkulten. Niemand wusste das besser als Vaihinger. Über Jahre hinweg stand Vaihinger mit dem bayerischen Okkultisten Carl du Prel in engem Briefkontakt. Okkultistische Praktiken waren um 1900 klassenübergreifend en vogue. Man trat in Kontakt mit Verstorbenen, ließ Geister erscheinen und las spiritistische Zeitschriften. Du Prel hatte behauptet, dass Kant, indem er die objektive Realität der unsterblichen Seele annehme, praktisch ein Vorläufer des Okkultismus sei. Dies nahm der bekannte Zoologe und Darwin-Anhänger Ernst Haeckel aus Jena zum Anlass, Kants gesamte Philosophie in Bausch und Bogen als religiösen Aberglauben zu verurteilen. Also doch? Kant, ein Mystiker? In den damals gängigen Rezensionsorganen wurde bereits diskutiert, ob an Haeckels Vorwürfen nicht doch etwas dran sei und man Kant aus dem philosophischen Kanon streichen müsse.
Das konnte Vaihinger, selbst scharfer Kritiker der kantischen Morallehre mit ihren Postulaten, nicht zulassen. Daher beschloss er 1896, in Halle ein Forum zu gründen, das diesen Angriffen entgegentreten sollte: die Kant-Studien. Bis heute ist diese Zeitschrift tonangebend in Bezug auf die wissenschaftliche Erforschung der kantischen Philosophie. In den Kant-Studien, die Vaihinger bis 1904 als Chefredakteur betreute, wurde ein neuer Kurs in Sachen Kant festgezimmert: die Morallehre sei kein religiöser Aberglaube und keine Urform des Okkultismus. Gott und unsterbliche Seele seien als reine Fiktionen zu betrachten, nach denen man sich richten sollte, als ob sie wirklich existierten. Wenige Jahre nach Gründung der Zeitschrift war diese, gegen Mystik und Materialismus gerichtete Sicht im Wesentlichen Konsens; und ist es bis heute. Vaihingers Projekt, Kants Morallehre durch eine radikale Neuinterpretation vor dem Okkulten und dem Aberglauben zu retten, erwies sich als erfolgreich. Durch Vaihingers Wirken wurde Halle um 1900 zum Hotspot der Kantforschung in Deutschland. Und er selbst erlangte in der Stadt Prominentenstatus. 1904 gründete er in Halle die Kant-Gesellschaft, die zeitweise zu den größten philosophischen Gesellschaften der Welt zählte und ebenfalls noch heute existiert. Wenn Vaihingers Schüler Arthur Liebert in den Halleschen Nachrichten noch 1932 davon redete, dass kaum ein berühmter Durchreisender es versäume, Hans Vaihinger, „den fast auf der ganzen Erde bekannten Schöpfer der Philosophie des Als Ob“, aufzusuchen, erhält man einen Eindruck von dem großen Einfluss des halleschen Philosophen.
Doch bereits wenig später waren die Tage der Kantstadt Halle gezählt. Ein Jahr nach Erscheinen seiner Lobeshymne wurde dem aus einer jüdischen Familie stammenden Liebert auf Befehl der Nazis sein Posten an der Berliner Universität entzogen, und er wurde, wie auch andere jüdische Kantforscher gezwungen, das Land zu verlassen. Die nichtjüdischen Kantianer, die bleiben durften, passten sich an, einige, wie der in Halle habilitierte langjährige Mitarbeiter der Kant-Studien Bruno Bauch, äußerten offen ihre Sympathie für die NS-Diktatur. Der seit 1908 in Halle lehrende Philosophieprofessor Paul Menzer wurde 1958 von der kommunistischen Diktatur der Spionage bezichtigt. Die Kantgesellschaft rekonstituierte sich 1969 in Bonn. Doch eins hatte Vaihinger nachhaltig erreicht: Wenn heute über die Aktualität von Kant diskutiert wird, dann hat er in Halle die Grundlagen dafür geschaffen.
*Bildbeschreibung 1
Porträtfotografie von Hans Vaihinger aus dem Jahre 1904.
Foto: Fritz Möller