Der speiende Philosoph – Christian Wolffs Flucht aus Halle

Es war ein Paukenschlag, als die Friedrichs-Universität zu Halle am 12. November 1723 ein königliches Schreiben mit dem „eigenhöchsthändigen“ Befehl empfing, dem Philosophen und Naturwissenschaftler Christian Wolff (1679–1754) das Dozieren nicht länger zu gestatten und ihn stattdessen zum Verlassen der brandenburgpreußischen Lande binnen 48 Stunden „bey Strafe des Stranges“ aufzufordern. Zur Begründung hieß es, dem Landesherrn, dem „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. (1688–1740, reg. 1713–1740), sei „hinterbracht worden“, dass Wolff „in öffentlichen Schriften und Lectionen solche Lehren [vortrüge], welche der im göttlichen Worte geoffenbarten Religion entgegen stehen“. Um wen es sich bei den Denunzianten handelte, lag auf der Hand: Es waren die pietistischen Professoren der Theologischen Fakultät um August Hermann Francke (1663–1727), die sich einen jahrelangen und zuletzt erbittert geführten Streit mit Wolff geliefert hatten.
 



Die Universitätsleitung ließ Wolff noch am selben Tag eine Abschrift des königlichen Reskripts überbringen, der sich daraufhin entschied, nach Kassel zu gehen, um am dortigen Hof über einen ihm bereits im Sommer erteilten Ruf an die Universität Marburg zu verhandeln, den er zwar nicht angenommen, aber auch nicht ausgeschlagen hatte. Ein Vermittlungsangebot von Seiten der Universität lehnte er ab, weil er voraussah, dass er dafür würde zu Kreuze kriechen müssen. Wo seine Dienste nicht erwünscht waren, habe er sie auch nicht aufdrängen wollen, erklärte er später nüchtern in seiner Autobiographie. Doch ganz so unterkühlt war seine Reaktion wohl doch nicht. Das lässt sich einer zeitgenössischen Schrift entnehmen, die der Philosophie- und Juraprofessor Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729), ein Gegner Wolffs und der Pietisten, kurze Zeit darauf veröffentlichte. Demnach musste Wolff sich beim Abschied von einigen seiner Kollegen übergeben, als ihm der Universitätskanzler Johann Peter von Ludewig (1668–1743) sein Bedauern ausdrückte und dabei wenig taktvoll auf die Worte verfiel: „Herr Jesu ich bin erschrocken über dieses Rescript, ich wasche meine Hände und habe weiter nichts mit der Sache zuthun.“ Die Anspielung auf die Handwaschung des Pontius Pilatus war für Wolff offenbar mehr als er ertragen konnte, stellte ihm die Kreuzigungsassoziation wohl allzu handgreiflich die drohende schändliche Galgenstrafe vor Augen.



Daraufhin hielt es ihn nicht mehr lange in der Stadt. Gleich am nächsten Morgen reiste er ab, wobei er nicht nur seinen gesamten Hausstand, sondern auch seine schwangere Frau mit einem einjährigen Sohn zurücklassen musste, was noch einmal die ganze Dramatik der Situation verdeutlicht. Schon am anderen Saaleufer machte er Halt, im damals sächsischen, heute zum Stadtgebiet von Halle gehörenden Passendorf. Dorthin folgten ihm die von seinem Diener zwischenzeitlich informierten Studenten, um Abschied zu nehmen und vorausgezahlte Hörergelder zurückzuerhalten. Anschließend setzte der Philosoph seine Flucht über Merseburg und Jena nach Kassel fort, wo er vermutlich am 15.November eintraf.



Ungeachtet der schimpflichen Entlassung aus Brandenburg-Preußen nahm man ihn in Hessen-Kassel unter überaus günstigen Konditionen in Dienst. Im Dezember setzte Wolff seinen Weg nach Marburg fort, wo sein Einzug vollends zum Triumph geriet: Studenten reisten ihm entgegen und geleiteten ihn feierlich in die Stadt. Doch konnten die öffentlichen Ehrenbezeugungen kaum darüber hinwegtäuschen, dass er als einsamer Verbannter an die Lahn übersiedelte. Seine Frau, die nach damaligen Begriffen als nicht transportfähig galt, blieb weiterhin an der Saale und kam Mitte Januar mit einem zweiten Sohn nieder. Wolffs langjähriger Famulus Ludwig Philipp Thümmig (1697–1728), der ebenfalls abgesetzt, aber nicht verbannt worden war, ordnete derweil die Papiere und die Bibliothek des Philosophen für den Abtransport. Dabei stieß er auf ein Horoskop, das Wolff sich als junger Mathematikstudent spaßeshalber und ohne viel von der Astrologie zu halten selbst gestellt hatte. Es besagte,
dass er einmal „in unverdiente Ungnade eines Königes verfallen würde, der es aber nach der Zeit erkennen würde und [ihm] besondere Gnadeerzeigen“ würde. Nach Verlauf eines Jahrzehnts trat beim „Soldatenkönig“ tatsächlich ein Sinneswandel ein und er bemühte sich, Wolff wieder in preußische Dienste zu ziehen. Der Philosoph zierte sich jedoch lange, sodass es schließlich Friedrich II. (1712–1786, reg. 1740–1786) vorbehalten blieb, ihn 1740 wieder zum Professor in Halle zu berufen.

*Bildbeschreibung 1
August Hermann Francke (1663–1727), Kupferstich v. Martin Bernigeroth

Bildnachweis: Amsterdam, Rijksmuseum, hdl.handle.net/10934/RM0001.COLLECT.79495

*Bildbeschreibung 2
Christian Wolff (1679–1754), Kupferstich v. Johann Georg Mentzel (zugeschr.)
Foto: Bamberg, Staatsbibliothek, urn:nbn:de:bvb:12-bsb11739783-0

*Bildbeschreibung 3
Nicolaus Hieronymus Gundlings (1671–1729) pseudonyme Schrift über Wolffs Vertreibung

Foto: München, Bayerische Staatsbibliothek, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00055984-1