100 Jahre Novemberrevolution. Plünderungen und Tumulte als Spiegel der politischen Unruhen 1919-1921
In diesen Wochen jähren sich das Ende des Ersten Weltkrieges und die Novemberrevolution als eine der gravierendsten gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen in der Geschichte unseres Landes zum 100. Mal. Der Zusammenbruch der durch Krieg und materielle Not zerrütteten althergebrachten monarchischen Ordnung eröffnete Wege in eine neue Zeitepoche, die uns heute als Moderne geläufig und in ihrer demokratischen politischen Ausgestaltung beinahe selbstverständlich geworden ist. Insbesondere in der Stadt Halle und ihrem mitteldeutschen Umland war dieser Wandel jedoch mit mehrjährigen schweren Unruhen und wellenförmig auf- und abschwellenden bürgerkriegsähnlichen Kämpfen verbunden. In deren Mittelpunkt standen die Frage nach der zukünftigen inneren Ausgestaltung Deutschlands: Fortführung der Revolution bis zur Errichtung einer Räteherrschaft nach sowjetrussischem Vorbild oder parlamentarische Demokratie, ausgerichtet an den Traditionen Westeuropas und Nordamerikas. Der hohe Grad der Industrialisierung und der gewerkschaftlichen Organisierung der Arbeiterschaft sowie die Dominanz des linken Flügels der SPD schon vor dem Kriegsausbruch ließen Mitteldeutschland zu einem Brennpunkt der Auseinandersetzungen werden.
Die in den Kriegsjahren durch Blockade und Rationierung gewachsene materielle Not der Bevölkerung sowie das zeitweilige Entstehen rechtsfreier Räume im Verlauf von Kampfhandlungen ließen Plünderungen und damit verbundene Tumulte zu einer häufi gen Begleiterscheinung des Geschehens werden. Sie traten schon in den Novemberwochen 1918 auf und nötigten die neuen politischen Autoritäten Arbeiter- und Soldatenrat zur Androhung schwerster Strafen. Eine Eskalation vollzog sich in den ersten Märztagen 1919, als Halle von Truppen des Freiwilligen Landesjägerkorps unter dem Kommando von General Georg Maercker besetzt wurde und diese dabei örtlich auf heftigen bewaffneten Widerstand stießen. Durch einen Generalstreik der Arbeiterschaft und einen bürgerlichen Gegenstreik unter Teilnahme der Polizei geriet die Situation völlig außer Kontrolle, die Straßen verfielen in einen Zustand der Gesetzlosigkeit. Dies ließ den schon zu Beginn der Revolution erhobenen Ruf nach „Ruhe und Ordnung“ weitere Kraft gewinnen.
In diesem Zustand dringenden Handlungsbedarfs bildete der Magistrat am 6. März 1919 eine Kommission für Plünderungsentschädigung, die sich aus fünf Stadträten, einem Rechtsanwalt, sechs Kaufleuten und einem Vertreter der Städte-Feuersocietät der Provinz Sachsen zusammensetzte und von dem Stadtrat Paul Frenzel geleitet wurde. Vertreter der Stadtverordnetenversammlung stießen nach Neuwahl des Gremiums am 17. April 1919 hinzu. Rechtliche Grundlage des Vorgehens war das preußische Tumultschadensgesetz vom 11. März 1850, seinerzeit erlassen unter dem frischen Eindruck der Revolutionsjahre 1848/49. Es erlegte nach § 1 den Kommunen eine Haftungspflicht für angerichtete Schäden auf.
Zur praktischen Regulierung der eingetretenen Schadensfälle wurde ein „Büro für Plünderungsentschädigung und Tumulte“ eingesetzt, welches die Entschädigungsanträge zu bearbeiten hatte. Aus der Tätigkeit dieser Dienststelle sind im Stadtarchiv Halle insgesamt 3861 Aktenvorgänge überliefert, die eine erstrangige Quelle für die Details des Geschehens und die topografische Verortung der Brennpunkte der Ereignisse darstellen. Es finden sich Vorgänge zu geplünderten Kaufhäusern und Nobelrestaurants, aber auch Fälle verwüsteter Wohnungen oder gestohlener Kleidungsstücke, die die große soziale Spreizung der Geschädigten deutlich machen. Neben reichhaltigen Informationen zur Gruppe der Antragsteller bieten die Akten des Plünderungsbüros auch einen Einblick in die Arbeitsweise der Dienststelle selbst.
Wie bei allen finanziell brisanten Vorgängen stand auch hier die Frage der Einschätzung der Ereignisse und der Zuständigkeit von Anfang an im Raum. Eine neue gesetzliche Regelung der Tumultschäden wurde mit dem „Gesetz über die durch innere Unruhen verursachten Schäden“ vom 12. Mai 1920 erreicht. Es verteilte die finanziellen Ansprüche zwischen Reich, Ländern und Kommunen. Ferner wurde die Frage der Bedürftigkeit mit in Betracht gezogen und offenkundige Luxusartikel von der Entschädigung ausgeschlossen. Die eingereichten Anträge blieben darüber hinaus nicht ungeprüft, Einzelfälle zogen sich so oft über mehrere Jahre und Instanzen hin. Einen faktischen Endpunkt dieser Problematik führte schließlich die Hyperinflation von 1923 herbei, die weiteren Streit um inzwischen völlig entwertete Entschädigungszahlungen sachlich erübrigte.
(Autor/in: Roland Kuhne)