Wir werden den Ratten aufs Haupt hauen - Teil 2

Kulturfalter: Wie haben Sie den Mauerfall erlebt? War dies der Zeitpunkt an dem die Sektkorken knallten?

Hans Hanewinckel: Ich war an diesem Tag, wie jedes  Jahr, mit anderen auf dem jüdischen Friedhof, gemeinsam mit der kleinen jüdischen Gemeinde von Halle. Wir haben der Pogrome des 9. Nov. 1938 in der sogenannten "Reichskristallnacht" gedacht. Das war wie immer ein starkes und  berührendes Erlebnis. Am Abend – wir waren ja noch bei der Arbeit der Mahnwache im Gemeindehaus - sahen wir nebenher die Bilder im Fernsehen. Wir konnten, das was wir da sahen, nicht richtig glauben, denn Pershing 2 und SS 20 waren doch eine Realität. Und zwischen diesen beiden Raketensystemen stand die Mauer. Die konnte nicht kaputt gehen, wenn nicht beide Systeme kaputt gingen. Ich habe zwei Tage gebraucht, bis ich es glauben konnte. Ich habe kein tatsächliches Erlebnis an den Mauerfall am 9. November.

Kulturfalter: Was wissen Sie über den Mauerfall? Was verbinden Sie mit ihm?

Elisa Dziubiel: Ich bin ein Jahr nach dem Mauerfall geboren und habe zwar eine DDR Geburtsurkunde, aber das war es auch schon. Ich verbinde mit dem Mauerfall vor allen Dingen Erzählungen, Dokumentationen und große Emotionen. Ich habe den Mauerfall nicht erlebt, kann aber nachvollziehen, dass nach 40 Jahren Teilung sehr viele Emotionen hochkamen.

Kulturfalter: Was wissen Sie von ihren Eltern?

Elisa Dziubiel: Sie waren nicht in Berlin. Sie sind erst später in den Westen gefahren und sie waren überwältigt. Es muss damals eine ganz spannende Zeit gewesen sein. Da kamen Dinge auf das Volk zu, die sie nie für möglich gehalten haben. Die Grenze war weg, auf einmal gab es nur noch ein Volk. Dieses Gefühl, was man erreichen kann in dem man demonstriert gegen dass was man so nicht haben will, dass hat sie sehr beeindruckt.

Hans Hanewinckel: Das ist das überwältigende Gefühl dieser Tage, dass man etwas erreichen kann. Es war nicht zu glauben und es war trotzdem passiert.

Kulturfalter: Sind ihre Wünsche, Träume, Ziele in Erfüllung gegangen für die sie mit ihrem Engagement gekämpft haben?

Hans Hanewinckel: Es gab neben anderen drei Ziele für die Mahnwache. 1. Die Inhaftierten sollten frei kommen, 2. Die verhängten Geldstrafen und 3. die Vorstrafen sollten gestrichen werden. Als dies erreicht war und die Bürgerkommission  eingesetzt war, haben wir die Mahnwache beendet. Die unmittelbaren Ziele sind erfüllt worden.

Am schönsten für mich war, dass diese Glocke, die über uns hing, weg war. Das die weg war und dann dieses Gefühl, was Elisa eben beschrieben hat, dass man etwas erreichen kann, das ist auch heute noch sehr bewegend für mich.

Meine Ziele, was die Ökologie und das Recht anbelangt, besonders die Gewaltenteilung, und das ich ein Recht auf einen Verteidiger habe, dass sich diese europäische gewachsene Rechtsform wieder durchsetzte, dass war eine ganz große Erfahrung für mich. Und was die Staatsform angeht: Wir kennen keine bessere.

Kulturfalter: Warum glauben sie sind die Menschen auf die Straße gegangen?

Elisa Dziubiel: Ich denke, dass es zwei unterschiedliche Beweggründe waren. Es gab zum einen die Menschen, die den Staat verbessern oder reformieren wollten. Zum anderen gab es die, für die das Fundament des Staates nicht mehr tragbar war. Für sie war die DDR ein Unrechtsstaat und diesen wollten sie abschaffen. Es entstand eine Gruppendynamik, die wiederum viele Leute mitriss.

Kulturfalter: Spielt die friedliche Revolution eine Rolle in Ihrem Leben?

Elisa Dziubiel: Ja sie spielt eine große Rolle. Wenn die Wende nicht gewesen wäre, dann wäre ich heute nicht hier. Wir alle wären nicht hier. Ich hätte nicht die Möglichkeiten, die ich heute habe. Ich kann verreisen, ich kann studieren, was ich möchte und das wäre sonst nicht möglich gewesen.

Kulturfalter: Wie sehr sind Sie sich dessen bewusst?

Elisa Dziubiel: In dem Moment in dem ich darüber nachdenke, wohin ich fahre, ist mir das natürlich nicht bewusst, ebenso wie der Wahl meines Studienplatzes. Aber wenn ich darüber nachdenke, das gar nicht die Möglichkeit bestanden hätte, soweit weg zu fliegen oder ein bestimmtes Studium zu machen. Dann ist das rückblickend eine Riesenleistung, die mir mein heutiges Leben ermöglicht.



Kulturfalter: Haben die damaligen Ereignisse persönliches Leben verändert?

Hans Hanewinckel: Das ist schwer zu sagen, weil wir in der Georgengemeinde ja schon so gelebt haben, wie wir wollten. Natürlich kann man sagen, das war eine Nische, eine Insel. Aber es war unser Modell, eine grüne Insel, ein soziokulturelles Zentrum.

Das war mit viel Arbeit verbunden, praktischer Arbeit auf der Baustelle, poltischer und kultureller Arbeit. Und es gab Konzerte, Theater, Lesungen, Vorträge – alles was im Staat nicht laufen durfte. Wir hatten uns eine Nische geschaffen, in der Leute richtig gut gelebt haben. Fliegen ist leicht bei Gegenwind. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass diese freie Lebensform einmal in der ganzen Gesellschaft verwirklicht werden kann. Insofern haben wir, die Menschen, mit denen ich gelebt habe, ein selbstbestimmtes Leben geführt und haben uns nicht hineinreden lassen. Zum Denken wollten wir unseren eigenen Kopf benutzen.

Aber das hat enormen Mut verlangt, mit dem Wissen, dass der Staat jederzeit zuschlagen und einen verhaften kann. Aber diese innere Freiheit haben wir uns erkämpft, was unendlichen Spaß gemacht hat. Das ist kein Votum dafür, dass die DDR gut war. Das ging alles nur, weil die in der Führung so schräg waren. - Und z.B. Reisen, das wurde nicht so hoch gehängt, wichtiger war aber die Forderung, dass man selber bestimmen kann, wohin die Reise geht. Wie mutig konnte man sein?  Als Pfarrer habe ich mein Geld von einer vom Staat unabhängigen Organisation, also der Kirche, bekommen. Schon deshalb waren wir Pfarrer waren freier als Andere. Wir hätten mutiger sein können.

Aber in der Praxis hat sich mein Leben sehr verändert. Wir konnten z.B. an der Kirche auf einmal mit Geld bauen. Wir hatten auf einmal Geräte, Gerüste auf der Baustelle, wie sie auf jeder normalen Baustelle zu finden waren. Das gab es vorher nicht und das war recht beeindruckend.



Kulturfalter: Sprechen Sie heute noch mit Menschen über die damaligen Erlebnisse?

Hans Hanewinckel: Wenn man sich trifft, dann ja. Es waren ja schließlich Erlebnisse, die man nicht alle Tage hat. Wichtiger ist mir aber, dass man Schlüsse daraus zieht. Die Aufbauarbeit an der Kirche, die Mahnwache, was die einzelnen Gruppen gebaut und gemacht haben, das bleibt.  Es ist gut das zu erzählen, aber mir gefällt sehr gut, was Sie, Elisa, gesagt haben. Wir müssen das "Heute" anfassen. Es ist wie mit dem  protestantischen "semper reformanda" - "Die Reformation geht weiter.“

Der damalige Umbruch (89) war gewaltig, doch wir müssen nach vorne schauen. Leute, die die kuschelige DDR-Zeit vermissen, kann ich nicht verstehen. Es war das „Kuscheligkeit“ einer Gefängniszelle.

Kulturfalter: Fühlen Sie sich eher  als  Wende-Kind, Bürgerin der BRD oder eher Ostdeutsche?

Elisa Dziubiel: Ich bin der Meinung, solange dieses Ossi-Wessi-Denken noch da ist, es  kommt es mir vor, das dies in den Medien vor allen Dingen  immer noch angeschoben wird, solange ist die Einheit nicht vom Tisch. Mir würde es nie einfallen zu sagen:  „Ich bin Ossi oder Ostdeutsche.“ Ich bin Deutsche. Ich bin nach fast 20 Jahren vollkommen gegen diese Einteilung.

Hans Hanewinckel: Ich habe damals oft über diese Frage nachgedacht und bin zu keinem Ergebnis gekommen. Vaterland, Heimat, Deutscher war zu DDR Zeiten schwer zu beantworten. Eines Tages auf der Autobahn nach Thüringen sah ich dann das Schild: "Willkommen in Thüringen" und da dachte ich mir, das könnte ich sagen: "Ich bin Thüringer“,  denn dort bin ich aufgewachsen. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich mich verorten kann. Aber auch Thüringen war natürlich DDR. Und ich bin DDR-Kind. Ich bin hier groß geworden, bin hier sozialisiert worden. Hier habe ich gelernt, dass ich so nicht leben will und dass man sich auflehnen kann. Es ist aber das Land, dass mich immer gereizt hat, eine anderer zu werden und mich nicht anzupassen.

Kulturfalter: Herr Hanewinckel, Elisa Dziubiel - Vielen Dank für das Gespräch.

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