Zwangsumsiedlung 1946: Mitarbeiter der Siebel Flugzeugwerke Halle in der Sowjetunion

In der Dauerausstellung des StadtmuseumsHalle befindet sich ein zunächst unscheinbares Gerät, ein Petroleumkocher. Es handelt sich um eine historische Quelle für ein Ereignis, das sich in diesem Jahr zum 70. Mal jährt. Der Kocher wurde 1946 im sowjetischen Gorki – von 1932 bis 1991 Bezeichnung von Nischni Nowgorod – produziert, wie sich am Herstellerschild ablesen lässt. Der Objektdokumentation im Stadtmuseum ist zu entnehmen, dass er 1983 als Schenkung der halleschen Familie Preuß in das damalige Geschichtsmuseum der Stadt Halle gelangte. Zu seiner Geschichte wurde damals festgehalten, dass die Preuß’ ihn 1946 in der UdSSR gekauft und auch nach ihrer Rückkehr in die DDR verwendet hatten.

Der Zusammenhang, in dem dies geschah, blieb dabei ausgespart, denn darüber wurde in der DDR Stillschweigen bewahrt: die Zwangsumsiedlung sogenannter „Spezialisten“ mit ihren Familien und Haushalten aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in die UdSSR 1946, darunter auch von Mitarbeitern der Siebel Flugzeugwerke Halle. Mit ‚Spezialisten’ wurden Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker aus Forschungs- und Entwicklungsabteilungen rüstungsrelevanter Institute und Betriebe bezeichnet. Ihre Zwangsumsiedlung erfolgte im Rahmen der Wiedergutmachung an die Sowjetunion als Folge des Zweiten Weltkriegs, des sowjetischen Programms zur Übernahme und Weiterentwicklung deutscher Rüstungstechnologie sowie der allgemeinen Konkurrenz zwischen der Sowjetunion und ihren ehemaligen Alliierten um deutsches Know-how. So hatten die US-Amerikaner bereits im Sommer 1945 – im sogenannten ‚Abderhalden-Transport’ – hallesche Spitzenwissenschaftler in die Westzonen verbracht, bevor sie die Saalestadt an die Sowjets übergaben.



Mitteldeutschland war bei Kriegsende ein Zentrum des hochentwickelten deutschen Flugzeugbaus und daher von Demontagen und Zwangsumsiedlungen stark betroffen. Die Siebel Flugzeugwerke Halle, deren Überschallflugzeug DFS 346 in der Sowjetunion weiterentwickelt werden sollte, wurden als Experimental-Konstruktionsbüro 2 (OKB 2) in Podberesje angesiedelt, einem Ort rund 120 Kilometer nördlich von Moskau. Eine Zeitzeugin erinnert sich, dass die Umsetzung des Betriebs so gewissenhaft erfolgte, dass sogar die Schreibtische mit Notizzetteln, Stiften und persönlichen Dingen eingepackt wurden. Die Tochter eines seit 1939 bei Siebel beschäftigten Konstrukteurs war 17, als sie mit Vater, Mutter und dem zwei Jahre älteren Bruder von Halle nach Podberesje kam. Ihre Schullaufbahn war damit beendet, sie arbeitete fortan als Laborantin ebenfalls im OKB.

Der Anblick des Petroleumkochers ruft in ihr Erinnerungen an die schwierige Eingewöhnung in Podberesje wach: Die Versorgungslage war schlecht, die Deutschen mussten sich auf landesübliche Gepflogenheiten im Alltag und in den Konsumgewohnheiten einstellen. Die Öfen zum Heizen sowie Kochen und Backen in den Holzhäusern, in denen ein Teil der „Siebelianer“ untergebracht war, verursachten erhebliche Umstände. Sie verbrauchten große Mengen Holz, das es nur im Winter auf Zuteilung gab und gefroren angeliefert wurde.



Abhilfe schafften Petroleumkocher wie der des Stadtmuseums, auf denen nicht nur Mahlzeiten, sondern auch die Wäsche gekocht wurde, deren Handhabung aber ein gewisses Geschick erforderte. Während im Werk Deutsche und Sowjets im Sinne des Wissenstransfers zusammenarbeiteten, war der Austausch in der Freizeit unerwünscht. Die Deutschen blieben unter sich und entwickelten ein eigenes soziales Leben mit kulturellen Aktivitäten und geselligen Zusammenkünften. Da keine Gottesdienste abgehalten werden durften, unterrichtete eine Frau Christenlehre. Die Feier des ersten Weihnachtsfeiertags war erst möglich, nachdem sich die deutschen Vorgesetzten dafür eingesetzt hatten.

Um 1950 war die Weitergabe deutschen Fachwissens an die Sowjets soweit abgeschlossen, dass mit der Abwicklung des Programms begonnen wurde und die „Spezialisten“ mit ihren Angehörigen nach und nach in die DDR ausreisen konnten. Die Familie Preuß war unter den letzten. Nach einer neuerlichen Umsiedlung kehrte die Mutter mit den Söhnen 1953 nach Halle zurück, der Vater ein Jahr später. Solange die DDR und die Sowjetunion bestanden, durften die Heimkehrer nicht über das sprechen, was ihnen durch das „sozialistische Bruderland“ widerfahren war. Erst danach konnten sie sich öffentlich äußern. Gleichzeitig setzte mit der Öffnung der Archive die wissenschaftliche Aufarbeitung ein.

(Autor/in: Susanne Feldmann)