Johann August Unzer: Mediziner, Journalist, Philosoph - und Experte für ´Demenz`

Georg Friedrich Händel, Christian Wolff, Christian Thomasius: Große Namen des 18. Jahrhunderts sind in Halle sehr präsent. Am Riebeckplatz hängt ein Porträt von Johanna Charlotte Unzer, die als Verfasserin einer „Weltweisheit für das Frauenzimmer“ und von „Sittlichen und zärtlichen Gedichten“ zu ihrer Zeit hoch geehrt war. Die Spuren ihres Mannes Johann August Unzer (1727–1799) sind weniger deutlich zu sehen – obwohl er von Johann Wolfgang von Goethe zu Recht zu den größten Medizinern der Mitte des 18. Jahrhunderts gerechnet wurde.

Der Mediziner, Journalist und Philosoph Unzer hatte einen ganzheitlichen Ansatz, der auch 250 Jahre später noch vorbildlich wirkt. Unzer verknüpfte Medizin, Philosophie, Literatur und Theologie im Sinne der „Volkserziehung“, der er sich als „aufgeklärter“ Gelehrter verschrieben hatte. Dies machte sein wichtigstes Projekt „Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift“ äußerst erfolgreich. Dieses Journal, dessen Artikel er vermutlich alle selbst geschrieben hat, gab er von 1759 bis 1764 heraus. Es wurde bis weit in das 19. Jahrhundert hinein rezipiert, unter anderem von Georg Christoph Lichtenberg und Immanuel Kant.



Unzer hat an der Universität Halle und im Collegium Clinicum an den Franckeschen Stiftungen eine fundierte medizinisch-philosophische Ausbildung genossen. Er bekam dort die unterschiedlichsten Theorien vermittelt: den Wolffschen Rationalismus, die Iatromathematik, die die Körperfunktionen berechnen wollte, den Mechanismus, der den Körper als Maschine ansah, und den Animismus, nach dem die Seele bei der Steuerung der Körperfunktionen eine Hauptrolle spielte. Im Collegium Clinicum, das der Mediziner Johann Juncker 1717 gegründet hatte, lernte Unzer die Leiden der Armen aus nächster Nähe kennen.

1750 zog er nach Hamburg und wenig später nach Altona um. Dort übernahm er eine florierende Arztpraxis, verfasste Lehrbücher und schrieb für mehrere Zeitschriften. 1771 leistete er seinen bedeutendsten wissenschaftlichen Beitrag. Er fand heraus, dass Nerven auch dann noch auf Reize reagierten, wenn ein Versuchstier keinen Kopf mehr hatte. Unzers „Nervenkraft“ entspricht in etwa dem heutigen Begriff von der Nervenerregbarkeit.

Unzer hat sich zeitlebens von keiner medizinischen Theorie ganz vereinnahmen lassen. Viel wichtiger als ein schlüssiges Theoriegebäude war ihm die Wirksamkeit von Therapien. Damit hatte er nicht unrecht: Viele medizinische Theorien seiner Zeit hatten, wie heute bekannt ist, mit der Realität nichts zu tun. Dies hielt ihn allerdings nicht davon ab, seinerseits als Grund für viele Krankheiten – Epilepsie ebenso wie Gedächtnisstörungen oder Melancholie – eine gestörte Verdauung zu propagieren. Er stellte selbst ein Verdauungspräparat her, an dem er gut verdiente – nicht zuletzt, weil er im „Arzt“ regelmäßig Reklame dafür machte.



Unzers Therapien entstammten dem Instrumentarium seiner Zeit. Vieles davon wirkt heute grausam: Aderlässe sollten gegen fast alle Krankheiten helfen, gegen Wurmbefall trank man Quecksilber, gegen Krätze wurde Schwefelsalbe aufgetragen, und Schmerzen wurden mit Opium bekämpft. Wie andere Ärzte und Philosophen dachte Unzer auch darüber nach, wie mit altersbedingten Gedächtnisstörungen – die heute einer Demenz zugerechnet würden – umzugehen sei. Er fragte sich, ob sinnliche Eindrücke in das Gehirn „eingeprägt“ würden und ob das Gedächtnis im Alter deshalb nachlasse, weil das „Hirnmark“ verhärte und austrockne. Unzer bekannte offen, dass er Arzneien zur Gedächtnisstärkung für wirkungslos hielt.

Wurmbefall, Krätze und Schmerzen lassen sich heute wesentlich besser bekämpfen, und die Ansichten über die Funktionsweise des Gehirns haben sich stark verändert. Demenz ist jedoch noch genauso wenig heilbar wie zur Zeit Johann August Unzers. Wie es damit in 250 Jahren aussehen wird, darüber lässt sich nur mutmaßen.

(Stefan Wesselmann, Kulturfalter November 2013)