Tradition auf Beschluss? 50 Jahre Gründung des Halleschen Fussballclub Chemie

Ein Begriff , der in jüngster Zeit im Fußball geradezu inflationär begegnet,ist der des „Traditionsvereins“. Was darunter zu verstehen ist, bleibt auf Nachfrage vielfach unklar. Verwiesen wird etwa auf eine lange Geschichte, heroische Erfolge in einer mythenumwobenen Vorzeit, eine treue Anhängerschaft oder eine mitbestimmte Vereinskultur.

Von Vereinsführungen und Fans zahlreicher „Ostvereine“ wird der Status „Traditionsverein“ ebenfalls in Anspruch genommen, so auch für den Halleschen FC. Als Argument wird diese Zuschreibung etwa im Marketing oder bei der Fördermittelvergabe vorgetragen. Zugleich wird sie von den Medien verstärkt. Partien wie Halle gegen Rostock oder Magdeburg gegen Chemnitz werden zu „Ostderbys“oder „Traditionsderbys“ stilisiert. Dies, obwohl diese Begegnungen bis 1990 keine besondere sportliche oder emotionale Aufladung besaßen, die Mannschaften danach selten die Ligazugehörigkeit teilten und diegeografische Distanz offenkundig ist. Abgegrenzt wird der „Traditionsverein“vor allem von finanzstarken Emporkömmlingen bzw. von erst in jüngerer Zeit erfolgreichen Vereinen.

Eine vehemente Trennlinie wird fanlagerübergreifend gegenüber RB Leipzig gezogen. Der von einem österreichischen Getränkekonzernmassiv alimentierte Verein wird als Feindbildangesehen und mit dem Alternativnamen „das Konstrukt“ tituliert. Er gefährde den freien Wettbewerb und verdanke seine Existenz ausschließlich marktstrategischen Überlegungen, so die Kritiker. Aus bewusster Ignoranz oder schlicht Unkenntnis werden andererseits oft die Umstände übersehen,unter denen etliche der „Traditionsvereine“ des „Ostfußballs“ gegründet wurden. Denn die Schaffung von zehn Fußballclubs quer durch die DDR Ende 1965/Anfang 1966 war ein sportpolitischer Akt, der vor Ort durch die SED-Bezirksleitungen begleitet wurde. Mit einer romantisch verbrämten Vereinsgründung am Stammtisch hatte dieser nichts gemein. Der Fußballunterlag, wie der gesamte Sport, massiver Einflussnahme seitens der Partei- und Staatsführung. Einer bürgerlichen Vereinsarbeit generell war längst der Boden entzogen worden, diese war vielmehr unter der Formel „Sport auf Produktionsbasis“ an staatliche Trägerbetriebe gebunden, des Weiteren an die sogenannten bewaffneten Organe.



Auf Beschluss des DTSB und des DFV wurden in Berlin (drei Vereine), Rostock, Erfurt, Jena, Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg und Halle Fußballclubs gegründet. Durch eine Standortkonzentration sollte nachdem Willen der Funktionäre die internationale Wettbewerbsfähigkeit des DDR-Fußballs gestärkt werden. De facto handelte es sich um die Ausgliederung der Fußballsektionen aus den Mitte der 1950er Jahre ebenfalls dirigistisch gegründeten Sportclubs. So erfolgte die Gründung des Halleschen FC Chemie, die am 26.1.1966 im neuen Interhotel Stadt Halle stattfand, als Herauslösung aus dem SC Chemie Halle. Dieser war seinerseits 1958 als Zusammenschluss des SC Wissenschaft Halle und des SC Chemie Halle-Leuna entstanden. In die Sportclubs wiederum warenebenfalls auf Beschluss der Sportführung der DDR zuvor Vereine bzw. deren Fußballsektionen eingebunden worden. Die Fußballsektion der BSG Turbine Halle mit ihrer Oberligamannschaft (DDR-Meister 1951/52) war gegen größeren Widerstand auf diesem Weg 1954 dem SC Chemie Halle-Leuna einverleibt worden.

Die Fußballclubs genossen in der Folge eine zentrale Förderung und umfassende Privilegien. Als Beispiel sei nur das System der Delegierung genannt, das talentierte Spieler oft gegen ihren Willen zu einem Vereinswechsel zwang. Dies führte zu einer Benachteiligung von anders eingestuften Vereinen und einem sportlichen Zweiklassensystem. Einer planwirtschaftlich ‚von oben‘ betriebenen Strukturreform verdanken die Fußballclubs demnach ihre Gründung und einer bis zum Ende der DDR verankerten Chancen-Ungleichheit einen Großteil ihrer früheren Erfolge. Festgeschrieben war damit bis zur Abwicklung der DDR-Oberliga ein Zustand, den viele Fans von „Traditionsvereinen“ heute wiederum anprangern: eine Aushebelung des fairen Wettbewerbs durch Vereine neuen Typs. Das jetzige Image basiert also auf einer selektiven Wahrnehmung und dem, was der Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012) als „erfundene Tradition” bezeichnete. Er beschrieb damit die Konstruktion historischer Kontinuitäten durch die Erfindung von Ereignissen,Gewohnheiten und Bräuchen, welche in die Vergangenheit rückprojiziert werden. Besonders in Zeiten beschleunigten Wandels dienen derartige Prozesse der Identitätsstärkung und der Abgrenzung gegenüber anderen. Dessen ungeachtet gilt das Jahr 1965 bzw. 1966 in der Selbstdarstellung von Fans und Vereinen als quasi magisches Datum und gleichsam mythischer Beginn; und dies nicht erst im Blick auf das Jubiläum. So kommt auchbeim Halleschen FC kaum ein Merchandising-Produkt ohne die Jahreszahl 1966 aus. Auf den Trikots sitzt sie den Spielern buchstäblich im Nacken. Als historisches Argument nutzen sie zahllose Aufkleber und Graffiti, mit denen vor allem Ultragruppen im halleschen Stadtraum und im Umlandihr Revier zu kartieren versuchen. Bemerkenswert ist das auch deshalb,da das Gründungsjahr nicht wie bei vielen anderen Vereinen – etwa bei Schalke 04, 1860 München oder dem Stadtrivalen VfL Halle 1896 – Teil des offiziellen Namens und Logos ist. In all dem liegt jedoch kein Widerspruch. Denn Fußball ist neben Sport nicht zuletzt eines: Spielwiese des Eigensinnigen und Paradoxen.

(Autor/in: Dirk Suckow)

(Dirk Suckow, Kulturfalter Januar 2016)