Norbert Leisegang über Keimzeit – das ist (m)ein Wunschleben

Zum 30jährigen Jubiläum von Keimzeit ging die Band auf große Reise. Sie spielten im gesamten Bundesgebiet und kamen auf ihrer Kolumbus-Tour auch am 18. Mai 2012 nach Halle ins Steintor Varieté. Keinem ist die Band um Sänger Norbert Leisegang unbekannt, erst recht nicht in Halle. Denn hier spielte Keimzeit in den 90ern verdammt häufig. Kulturfalterredakteur Nico Elste sprach mit Norbert Leisegang über 30 Jahre Keimzeit, das neue Album „Kolumbus“ und darüber, ob die Band noch immer bei ihren Fans übernachtet.

Kulturfalter: Guten Tag, Herr Leisegang, erst einmal: herzlichen Glückwunsch zum 30.! Was wünschen Sie sich zum Jubiläum von Keimzeit?

Norbert Leisegang: Erstmal danke zur Gratulation. Es ist so, dass ich es wie viele andere sehe. Und zwar, dass es ein Geschenk ist, 30 Jahre mit einer Band auf der Bühne stehen zu dürfen. Was die Zahl betrifft, habe ich beinahe ein bisschen Angst. Denn vor 30 Jahren hätte ich mir das nicht vorstellen können, wünschen ja… Ich bin stolz darauf, dass wir immer noch spielen, auftreten und ein neues Album haben, mit dem wir uns am aktuellen Geschehen orientieren. Ebenso natürlich, dass wir eine Menge Klassiker haben, die wir ins Programm einfließen lassen können.

Wenn Sie zurückblicken, was fällt Ihnen spontan ein?

Dass es ein Wunschleben ist. Ich habe mir mit 17 vorgestellt mit einer Band aufzutreten, Songs zu schreiben, Alben aufzunehmen, und das war mein Traum. Der ist in Erfüllung gegangen.



1993 schenkten mir Freunde Karten für ein Konzert von Keimzeit – damals war Ihre Band (klar, jeder kannte „Kling Klang“) in allen Altersschichten im Osten bekannt und beliebt. Das hat sich bis heute eigentlich nicht geändert. Keimzeit begeistert mehrere Generationen und hat eine unglaublich breite Fangemeinde. Wie schaffen Sie das?

Ich freue mich natürlich darüber, dass wir generationsübergreifend die Menschen ansprechen. Allerdings gibt es ebenso Leute, die Keimzeit meiden. Das darf man schon dazusagen. Nun ist es ja so, dass wir immer nur das in unsere Songs einfließen lassen können, was in uns steckt. Darin einbegriffen sind Erfolg und auch Krise. Ich merke, das eine ganze Menge Leute, mit denen wir groß geworden sind, ähnliche Erfahrungen haben. Natürlich nicht auf der Bühne, aber im Berufsleben oder im familiären Leben. So begleitet man sich gegenseitig.

Früher fragten Sie ins Publikum, bei wem Sie pennen können. Gibt es das heute noch?

Heute in der Art nicht mehr. Als wir jung waren, war das natürlich anders. Das kann man nicht auf heute transportieren. Es wäre auch unsinnig, immer ‚hippiesk‘ und jung bleiben zu wollen. Mittlerweile bin ich 51 Jahre alt und auch meine Kollegen sind älter geworden. Natürlich haben wir unsere Lebensweise und auch das Konzertieren und Übernachten dem angepasst. Was allerdings geblieben ist, ist der Kontakt zum Publikum.

Mit dem neuen Album „Kolumbus“ bringt Keimzeit das zehnte Album heraus – woher kommen die Ideen für immer neue Songs, Melodien und künstlerische Weiterentwicklungen?

Das sind auf jeden Fall die Kontakte zum Publikum während der Konzerte und zu den Leuten, die wir so kennen. Ich selbst, der zu 90 Prozent die Songs schreibt, werde durch viele Sachen inspiriert. Zum Beispiel reise ich sehr viel. Der zweite Song des Albums „Nachtzug nach Sofia“ basiert vom Inhalt her auf einer Reise nach Bulgarien. Im Schlafwagen lernte ich einen Bulgaren kennen, der Migrant ist. Er fährt stets zwischen Deutschland und Bulgarien hin und her, und er erzählte mir seine Lebensgeschichte. Dann gibt es Songs wie „Das gute Beispiel“. Da habe ich versucht, auf die moderne Familie ein Familienporträt zu entwickeln. Dann „Streik“, dazu braucht man nicht viel zu sagen: die allgegenwärtige Situation, sich häufig in Streiksituationen zu befinden… Solche Sachen inspirieren mich und wenn sie mich ‚anfunken‘, dann wird auch ein Song daraus.

Der Titel des Albums suggeriert ja so etwas wie Entdeckung, Aufbruch und Abenteuer. Sind das gewollte Assoziationen, die etwas Gemeinsames der 12 doch sehr differenten Songs trifft?

Bei „Kolumbus“ ist es ja klar. Da hat man sofort die Seefahrergeschichte vor Augen. Das wollte ich grundsätzlich nicht bedienen, habe ich auch nicht getan. Vielmehr steht das Moment des Entdeckens im Fokus. Immer, wenn ich merke, dass ich etwas nicht weiß, interessiert es mich kolossal. So muss es auch Kolumbus gegangen sein. Insofern habe ich eine Reise entworfen und verschiedene Metaphern und Assoziationen verbraten. Mit dem Album ist eine Entdeckungsreise angezettelt, die ich selber gerne mache.



Einige Titel haben etwas sehr Leichtes in den Melodien. Dabei handeln einige Songs, z.B. Beispiel „Streik“, „Das gute Beispiel“ oder „Nachtzug nach Sofia“ eher von weniger positiven Seiten des Lebens…

Jeder, der etwas entwirft – egal ob Theaterstücke, Romane oder Songs –, der wird merken, wenn man etwas Glückliches entwirft, gehört dazu auch der Abgrund. Wenn ich etwas Leichtes, Dur-artiges in einem Song verpacke, dann muss das nicht durch eine lustige Geschichte überzuckert werden. Da muss ich gar nicht aufpassen. Es passiert einfach oft, dass bei einer leichten Melodie ein krasser Inhalt hinzukommt oder umgekehrt. Am Ende gibt es dafür kein Konzept, was gut ist. Ansonsten würde man ja immer dieselben Songs schreiben und sich auf dieselben Schablonen berufen. Es kommt am Ende darauf an, dass ein Song aus der Schreibmaterie aufsteigt und die Herzen berührt.

Betrachten Sie die Musik von Keimzeit auch als eine Art der Verarbeitung oder als Möglichkeit einer optimistischen Perspektive auf die Widrigkeiten des Lebens?

Ich betrachte unsere Musik erstmal als Eigentherapie. Letztendlich gehe ich beim Schreiben von Unbekanntem oder von eigenen Defiziten aus. Wenn ich das vor Augen habe, kann ich daraus schöpfen und eigene Dinge, die mir schleierhaft erscheinen, rausbringen, und muss es nicht die ganze Zeit mit mir herumtragen. Das ist wahrscheinlich bei vielen Autoren der Fall, dass sie aus sich heraus einfach schon mal viele Sachen entwerfen.

Am 18. Mai kommt Keimzeit mal wieder nach Halle. Was verbinden Sie mit der Stadt?

Eine ganze Menge. Wir waren in den 90ern sehr häufig in Halle und haben dort bestimmt zwei- bis dreimal im Jahr gespielt. Dann ist es weniger geworden. Das hängt auch immer davon ab, ob Veranstalter in Halle Keimzeit organisieren wollen oder nicht. Letztendlich haben wir durch unsere intensiven 90er- und auch 00er-Jahre-Erfahrungen in Halle eine enge Beziehung zu Halle und den Leuten, die dort wohnen. Nicht zuletzt ist unsere gesamte Bläsercrew komplett aus der Stadt. Die Jungs sind alle in Halle aufgewachsen. Außerdem gibt es in Halle den schon krassen Unterschied zwischen Neustadt, Plattenbau – ein ziemlich herbes Halle, würde ich sagen – und dieser Innenstadt, die mittlerweile gut saniert ist. Wer das mag, und dazu zähle ich mich, der ist mit der Stadt sehr gut bedient und fühlt sich dort wohl.

Herr Leisegang, Vielen Dank für das Gespräch!

(Nico Elste, Kulturfalter Mai 2012)

 

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