Der Staat ist latent ausländerfeindlich

Am 23. Februar kam mit dem Fahrrad der Liedermacher Heinz Ratz nach Halle und spielte im VL in der Ludwigstraße. Der Aktivist fuhr mit dem Fahrrad, weil er sich gerade auf der dritten Etappe seines moralischen Triathlons befand. Mit seiner Tour der 1000 Brücken wollte er auf die oft miserable Situation von Flüchtlingen in Deutschland aufmerksam machen. Kulturfalterredakteur Martin Große sprach mit ihm.

Kulturfalter: Was wäre der größte Erfolg des 3. Teiles Ihres Triathlons?

Heinz Ratz: Es wäre ein Erfolg, wenn sich die Aufmerksamkeit möglichst vieler Menschen auf das Thema Flüchtlinge richten würde, so dass vielleicht auch viele aktiv werden. Natürlich wäre es schön, wenn Gesetze geändert würden und wenn es gelänge, die Flüchtlinge aus ihrer Situation herauszuholen. Die Flüchtlingslager werden teilweise von Unternehmern geführt, und die wollen damit Geld verdienen. Da gibt es in einigen jeden Tag das gleiche Essen – und das seit Jahren. Es leben fünf Männer in einem zehn Quadratmeter großen Zimmer. Aber es gibt auch gute Beispiele, da sind Menschen in Wohnungen mit Betreuung untergebracht, aber es gibt eben auch wirklich Lager im Wald, die fernab von jeglicher Zivilisation sind.

Was sollte sich sofort an der Situation der Flüchtlinge verändern?

Es gilt für viele die Residenzpflicht, das heißt, dass sie den Landkreis oder die Stadt nicht verlassen dürfen. Dann müsste die Selbstbestimmung über Essen und Kleidung den Menschen zurückgegeben werden. Und die ärztliche Versorgung ist auch ein wichtiger Punkt. Das Sozialamt entscheidet, ob die Menschen zu einem Arzt dürfen und dann dürfen die Ärzte nur Schmerzbehandlungen durchführen. Also keine Heilung, sondern nur Symptombekämpfung. Da wird Leuten die Behandlung verweigert, weil sie trotz ihrer Krankheit keine Schmerzen verspüren.

Auf Ihrer Website liest man viel Zustimmendes. Erleben Sie auch Ablehnung für Ihre Aktion?

Ja, wir erleben auch Ablehnung. Aber diese ist selten offen in Form von Kommentaren, wie „Das sind Gesellschaftsschmarotzer“ oder Ähnliches, aber es gibt viel Widerstand in Form von Schweigen und Wegschauen. Die großen Medien interessiert es nicht, und vielen Stellen ist es gleichgültig.

Was ist Ihrer Meinung nach Gastfreundschaft?

Gastfreundschaft ist, wenn man Menschen mit der gleichen Achtung behandelt, mit der man auch behandelt werden möchte.

Warum ist man Ihrer Meinung nach so wenig gastfreundlich zu den Menschen?

Man will sie nicht haben. Europa profitiert von der Situation. Deutschland ist ja nicht allein mit dem Problem. Es ist ein internationales. Man schickt die Leute dorthin zurück, wo sie ankommen. Das heißt oft nach Griechenland, und dort gibt es ein noch viel härteres System. Keiner weiß, was dort mit den Menschen geschieht.

Wissen Sie, was Sie erwartet, bevor Sie ein Heim oder Lager besuchen?

Meistens weiß ich nicht, was mich erwartet. Wir gehen manchmal durch die Hintertür hinein, weil wir keine Genehmigung haben, diese sind manchmal sehr schwer zu bekommen. Wenn wir uns dann mit der Lagerleitung auseinandersetzen, hören wir auch die komplette Palette an Kommentaren, wie „die können sich nicht benehmen.“ Oder „die müssen wir erst einmal erziehen“ usw.



Wissen Sie, was Sie in Halle erwartet?

Nein, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es wichtig ist, dass wir vorbeikommen und dass es in Dessau ein schlimmes Lager gibt.

Welchen Eindruck haben Sie von den Menschen in den Heimen, die Sie bisher besucht haben?

Die Menschen sind meistens sehr nett. Sie freuen sich, dass jemand kommt, und laden uns ein und teilen das Wenige, was sie haben, wie Tee und Kekse. Sie erzählen von ihrer Heimat. Ihre Verzweiflung ist oft sehr groß. Viele empfinden das Lagerleben schlimmer als einen Knast. Einer sagte mir „Im Knast weiß ich wenigstens, warum ich drin bin.“ Manche leben zehn oder fünfzehn Jahre in so einem Lager. Ich habe einen Professor getroffen, der seit acht Jahren in einem Lager lebte. Oftmals ist es ja die Intelligenz, die aus einem Land flieht, und die sitzen dann hier in einem Lager.

Sind für den deutschen Staat alle Menschen gleich?

Nein, überhaupt nicht!

Kann man sagen, dass der deutsche Staat latent ausländerfeindlich ist?

Das kann man. Er hält sich nicht an sein eigenes Grundgesetz. Bei den Zuständen in vielen Lagern könnte man Verfassungsklage einreichen und die Menschenrechte anmahnen. Genau das ist bei vielen Flüchtlingen auch die große Enttäuschung. Sie sind maßlos enttäuscht darüber, denn sie denken natürlich, dass es hier Menschenrechte gibt, und dann werden sie so empfangen und sehen, dass viele Menschenrechte nicht eingehalten werden. 

Gibt es gute Beispiele für den Umgang mit Menschen – national oder international?

In Hannover ist man wohl ganz gut. Hier wohnen die Menschen in Wohnungen mit Betreuung. Aber das wechselt eben auch von Stadt zu Stadt. In Greiz gibt es ein Flüchtlingsheim, das sehr in Ordnung ist. Da ist es sauber, und die Bausubstanz ist in einem guten Zustand. Aber wir haben Unterkünfte gesehen, wo sich 20 Leute eine Toilette teilen. Es wechselt von Bundesland zu Bundesland. In Bayern gibt es Essenspakete und Hygienepakete und ein bisschen Geld. Und es ändert sich auch was. Sachsen hat jetzt vor Kurzem die Residenzpflicht aufgehoben.



Wie ist die Resonanz auf Ihre Aktion allgemein?

Sie ist kleiner, als sie sein sollte. Man nimmt es wahr, aber es dauert eben ein bisschen, bis es sich herumspricht und auch größere Medien aufmerksam werden. Zu den Konzerten kommen so 100 bis 150 Leute, und pro Tag besuchen 3000 Leute die Internetseite. Das ist ein schöner Erfolg.

Wie viele Kilometer fahren Sie eigentlich pro Tag?

Es sind pro Tag 50 Kilometer. Wir haben es gekürzt, damit wir mehr Zeit für die Flüchtlinge und Begegnungen haben.

Warum fahren Sie im Winter?

Weil im Sommer die Menschen weniger aufgeschlossen für politische Aktionen sind. Außerdem will ich damit darauf aufmerksam machen, dass sich die Flüchtlinge ihre Situation auch nicht aussuchen können und bei jedem Wetter flüchten müssen.

Wie fährt es sich durch Deutschland im Winter?

Es macht eigentlich viel Spaß. Es ist besser als den ganzen Tag vor dem Computer zu sitzen. Mit dem Schnee und Hochwasser ist es ein bisschen ein Abenteuer. Und es schließen sich auch immer Leute an, das ist schön.

Herr Ratz, vielen Dank für das Interview!

(Martin Große, Kulturfalter Februar 2011)

 

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